Bis ans Ende der Welt
solches Glück nicht. Die Büttel würden mich fassen, der Richter hängen und die teutonischen RTL-Jünger mit ihrem Lieblingsspruch von „anderen Ländern, anderen Sitten“ nur bedenklich mit dem Kopf nicken. Und es würden keine Hühner meinetwegen lebendig werden, damit man mich vom Galgen nähme. Die konnten mich alle gerne haben, sie verdienten ihre Hühner voll und ganz. Und ich ließ sie stehen und ging aus der Stadt hinaus nach Redecilla. Dort übernachtete ich.
Aber nicht gut. Der Wunsch nach einem guten Schlaf ist verständlich, wird jedoch dem Pilger nicht leicht erfüllt. Am Rande der Erschöpfung, in überhitzten Massenunterkünften, wo ständig jemand unterwegs ist, schnarcht, mit Plastiktüten raschelt oder sonstwas treibt, schläft sich schlecht. Aber das sind nur die normalen, die guten Umstände. Es gibt auch noch wirkliche Störungen, die einem objektiv den Schlaf rauben. So wie das Fest damals im französischen Navarrenx oder eben jetzt in Redecilla. Hier waren bei meiner Ankunft alle Bewohner verschwunden, wie sich später herausstellte, um an einem Volksfest im Nachbardorf teilzunehmen. Das wäre ja noch legitim. Doch sie kamen nach Mitternacht zurück und feierten weiter, bis alle Sterne vom Himmel fielen, und es Licht wurde. Es war eine erbarmungslose Massensauferei mit allen Pauken und Registern. Und für uns, die etwa zwanzig Jakobspilger, eine ernsthafte Prüfung. Wir schliefen trotz des infernalischen Heulens aus dem Lautsprecher und des besoffenen Randalierens der spanischen Hallodri so gut es eben ging, und räumten am Morgen das Feld, ohne im Dorf die Fenster zerschlagen und allen Hühnern den Hals umgedreht zu haben, was uns, würde es auf der Welt wirklich gerecht zugehen, eigentlich zugestanden wäre. Wir hätten es gar straflos tun können, weil die Einwohner allesamt hilflos in Koma lagen. Statt dessen trösteten wir uns damit, die Nacht überlebt zu haben und das Dorf unversehrt wieder verlassen zu dürfen. So blieben wir an diesem Tag ohne Sünde. Vielleicht.
Villafranca Montes de Oca, km 2305
Einen winzig kleinen Vorteil brachte die wilde Fiesta immerhin. Keiner kam, weder am Abend noch am Morgen, um abzukassieren. Das passiert auf dem Camino wirklich selten, und es blieb mir daher gut im Gedächtnis hängen. Das Frühstück, zwei Tassen Tee und drei Kekse, teilte ich mit einem jungen Düsseldorfer, der noch schlechter als ich dran war. Vergeßt nicht, Gutes zu tun und mit anderen zu teilen; denn an solchen Opfern hat Gott Gefallen. [65] Das fand ich meinerseits auch und startete gutgelaunt in den Tag. Natürlich wieder als der Allerletzte. Ich mußte mich allerdings nicht beeilen, hatte alle Zeit der Welt und den Camino für mich allein. Oder das, was man hier darunter versteht. In Kastilien ist der Jakobsweg nicht nur ein kulturelles Erbe, sonder auch eine praktische Verkehrsader. Hier führen alle Wege nicht nach Rom, sondern nach Santiago. Warum also nicht gleich eine Schnellstraße drauf zu bauen? Und für den armen Pilger einen kahlen Streifen daneben. Auf dem darf er unter der prallen Sonne fröhlich laufen, dabei den Staub und die Autoabgase schlucken. Schatten gibt es keinen. Napoleon lies für seine Marschsoldaten Bäume wegen des Schattens pflanzen, doch das scheint hier keine weitverbreitete Idee zu sein. Man läßt sich die Sonne aufs Fell brennen oder verkriecht sich ins Haus. Aber nicht unter irgendwelche Bäume. Zu der enormen UV-Strahlung kommt noch der Staub und der Lärm der vorbeirasenden Schwerlastern. Um die Kontemplation ist es somit nicht besonders gut bestellt. Hauptsache, man marschiert. Die Form steht sozusagen vor dem Inhalt. Andererseits haben Wandergenossen, die tagsüber in einer Bar hängengeblieben und arg in Rückstand geraten sind, nun die Möglichkeit, mit dem Bus oder Taxi die verlorene Strecke aufzuholen. Ein Taxi zu viert kommt spottbillig, und je näher man sich dem Ziel nähert, desto häufiger sieht man sie. Die Fahrer sind kundig genug, die Stempelstellen anzufahren, und diskret genug, um nicht direkt vor der Herberge zu halten. Das könnte den Spott der Mitpilger wecken.
Immerhin führt der Camino hier noch nicht durchgehend entlang der Straße, weicht noch hie und da ab in die Felder aus und läßt die Illusion der freien Landschaft zu. Der Verkehr war an diesem Morgen eher dürftig, und ich tröstete mich mit dem weichen Licht und den langen Schatten, welche die zerklüftete Landschaft plastisch tünchten. Die Felder waren nun
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