Bis ans Ende der Welt (German Edition)
daß ich alle Bedenken fallen ließ. Wir sahen aus etwa fünfhundert M e ter Höhe durch das Tal des Lot bis nach Espalion . Der Wind schoß aus dem A b grund über die Klippe, strich in starken, langen Stößen über die Grashalme und warf sie rhythmisch hin und her. Dahinter lag die mittelalterliche Stadt, die Bergkette, der tiefblaue Himmel, der glühende Rand. Es roch nach Rosmarin, Thymian und Lavendel. Nach dem Essen rollten wir die Schlafsäcke aus, um ein wenig zu dösen, aber die Sicht ließ uns keine Ruhe. Schulter an Schulter saßen wir da, teilten uns die Kopfhörer, hörten Musik aus Sissis Mobiltelefon und s a hen wie gebannt das Wunder um uns herum. Kaum, daß wir zu sprechen wa g ten. Die dramatische Landschaft, die gefährliche Klippe, die starke Musik, das Mädchen, es war wie eine Szene aus einem Film mit Jean-Paul Belmondo. Ei n malig, romantisch, absolut spannend und unvergeßlich. Außer Atem. Aber ich mißtraute solch einem unirdischen Glück. Am Abend vor meinem Motorradu n fall erlebte ich ähnliches an einem kleinen slowenischen Fluß, wo ich das Zelt für die Nacht aufschlug. Die gleiche Klarheit des Blicks, die gleiche Farbintens i tät, die gleiche majestätische Stimmung. Am nächsten Morgen ging für mich die Welt unter. Und davor, sozusagen am Anfang meines Erwachsenenlebens, lag ich mit einem Mädchen wie Sissi in einem Heuhaufen und sah zu, wie am Nachthimmel voller Sternenräder der Mond, rosagelb und groß wie ein Sche u nentor, auf- und unterging. Es ist schon lange her, und ich habe seitdem so einen Mond nicht mehr gesehen. Es war während eines Ernteeinsatzes mit der Schule, und solche Szenen waren den Paukern freilich vollends verhaßt und une r wünscht. Also kletterte ich gegen Morgen heimlich über eine sieben Meter hohe Mauer, die ausgerechnet dann, als ich oben war, einstürzte und mich unter sich begrub. Als ich unter dem Ziegelhaufen endlich freikam und in den Schlafsaal gelangte, sah ich aus wie ein Zombie, blutüberströmt vom Kopf bis Fuß und fast skalpiert. Es wurde damals ein ziemlicher Skandal. Seitdem suchte ich in so l chem Bild des himmlischen Übergangs die Spur des Todesengels. Irgendwo da drin versteckt er sich und lauert, bis seine Zeit kommt. Ich bat den Herrn, mich zu behüten, damit ich mein Gelübde erfüllen kann. Er saß am Klippenrand und sah uns mitleidig an. Obwohl er unser Hirte war, unsere Erdentage wurden nicht nach ihm bemessen. Es war gut möglich, daß ich auch für dieses Moment noch teuer zu zahlen haben werde. Elisabeth schien es zu spüren und hielt mich e r schrocken fest, als ich für eine Sekunde auf dem glatten Gras ins Rutschen kam.
Nun lagen wir schon drei Stunden da, und es gab immer noch keine Spur von Joanna. Wir befragten jeden der vorbeiziehenden Pilger, aber keiner von ihnen überholte sie auf dem Weg. Später berichteten Nachzügler, Joanna rückwärts in Richtung Saint-Chély wandernd gesehen zu haben. Erst Thomas, nun sie? Schon wieder lief einer von uns rückwärts, war das nicht komisch? Wir weigerten uns, es zu glauben. Es kann Joanna gestern nicht entgangen sein, daß wir vom Berg ins Tal zum Kloster abgestiegen sind. Die Stadt lag voll sichtbar zu unseren F ü ßen. Gerade ein Kniekranker wird einen solchen Umstand wohl nicht übersehen und statt abwärts zu gehen, auf den Berg zu steigen. Darüber hinaus war Joanna ohne Gepäck. Dessen Transport nach Estaing übernahmen auch heute die Br e mer. Was trieb sie denn dazu, in der verkehrten Richtung zu laufen? Und warum wollte sie am Morgen nicht mit uns gehen? Ich war ratlos und besorgt. Elisabeth genauso. Sie erklärte, sich nicht eher von der Stelle zu rühren, bis Joanna au f kreuzte. Immer wieder kletterte sie über den Absperrzaun und lief ein paar Schritte auf dem Weg hin und her. Plötzlich kam sie mit einer nagelneuen Dig i talkamera in der Hand zurück. Jemand muß sie dort gerade verloren haben. Wer es auch immer war, zwischen den zwei letzten Suchgängen ist an uns niemand vorbeigekommen. Ein neues Rätsel oder auch nicht. Ich hätte mich beim Herrn nicht wegen der fehlenden Kamera beklagen sollen. Nun hatten wir eine. Die gespeicherten Bilder zeigten einen jungen Farbigen und ein weißes Mädchen. Das Mädchen sah sehr verliebt und glücklich aus. Ich dachte daran, daß ihnen die Bilder sehr fehlen werden. Aber Sissi war glücklich, sie hatte ein neues Spielzeug. Nun hatte sie guten Grund, durch die Gegend zu galoppieren. Sie mußte ja Fotos
Weitere Kostenlose Bücher