Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Wolken waren ja noch da. Statt dessen marschierte ich im weiten Tal auf der aufgelösten Bahnstrecke Kempten-Weitnau, die man gnädigerweise ve r gaß zu asphaltieren. Neuhundert Meter über dem Meeresspiegel über Berg und Tal ging der Weg. Im Hintergrund rauschte der Wald, sangen Vögel, bimmelten Kuhglocken. Das Wetter besserte sich, und der eine Ruhetag tat mir mehr als gut. Zwar waren die Blasen noch da, aber gut versorgt und gepolstert taten die Wunden fast nicht mehr weh. Ich konnte wieder einige Stunden in den Wande r schuhen marschieren. Das war nötig, und nicht nur wegen Stock und Stein. In den Sandalen schonte man zwar die Füße, doch dafür strapazierte es arg die G e lenke. Und das Zusatzgewicht auf dem Rücken war auch nicht angenehm. I m merhin wogen die Stiefel etwa anderthalb Kilo. Auch so schnitten die Rucksac k riemen mehr, als mir lieb war, in die Schultern ein. Doch ich war froh, wieder ausschreiten zu können, und marschierte mich satt und fröhlich. Dann saß ich lange an einer aufgelösten Bahnstation, wärmte mich an der Sonne und sah dem Herrn zu, wie er die vorbeifahrenden Radler segnet. Wie verwandelt fuhren sie weiter, still und friedlich.
Simmerberg, km 386
Ich verbrachte eine ruhige Nacht auf einem Bauernhof. Immer wieder regnete es heftig, und noch beim Aufbruch am Morgen ging ein Regenguß auf die Wiesen nieder und sorgte für nasse Schuhe. Nun ging es in die schwäbische Alb hinein, es wurde steil und bergig, rauf und runter durch Kurven und Kehren führte der Camino. Ohne feste Wanderschuhe ginge wohl nichts mehr, egal, wie die Blasen protestieren mochten. Sie waren ohnehin schon kleiner. Ich betrat den Weg der Besserung und lobte im Geiste Pilgerin Margret und ihre Instruktionen. Darüber hinaus gab es schöne Ausblicke und herrliche Ruhe. Genau nach meinem G e schmack. Auch keine Radfahrer, vor denen man heutzutage ja nirgends sicher ist. Vielleicht lag es am Wetter. Am Vormittag durchwachsen, der Wald feucht und kühl, am Nachmittag stichige Sonne und kalter Wind dazu. Die Wettervo r hersage meldete Gewitter am kommenden Tag. Meine Segelwettererfahrung und das wetterfühlende Unfallbein sagten dasselbe. Als ich um die Mittagstunde wieder ins Tal kam, konnte ich von einem fliegenden Händler am Wegrand ein schönes frisches Brot kaufen. Und weil nun ständig von den Mitmenschen ve r wöhnt wurde, bekam ich wie selbstverständlich einen großen Kuchen dazu g e schenkt. Beides ließ ich mir im nächsten Dorf bei einem Krug frischer Milch aus einer Käserei gut schmecken.
Bis dahin gab es praktisch noch keine Möglichkeit, eine Rast anzulegen, außer in Weitnau selbst, wo ich an diesem Tag startete. Da waren auf einem Lehrpfad sogar die Waldwege mit Holzschnitzeln gestreut, damit man sich die Schuhe nicht schmutzig machen muß. Aber da schon Pause zu machen, wäre natürlich verfrüht. Sonst gab es fast den ganzen Tag nichts zum Sitzen. Keine Bank, kein Rastplatz, auch nicht an den wahrhaft zahlreichen Kruzifixen unterwegs. Wa n derer gehe weiter, bleibe nicht stehen, stehle keine Hühner. Dankbar machte ich also von der gepflegten Raststelle hinter der Käserei Gebrauch. Sie diente den Touristen, die erworbenen Produkte gleich vor Ort zu konsumieren. Eine kluge, geschäftsfördernde Maßnahme war das, und aus meiner Sicht eine gute Gel e genheit auszuruhen. Da dachte ich, von dem respektvollen Umgang meiner Mitmenschen angesteckt, es wäre nur fair, die Ladenbesitzer auch etwas verdi e nen zu lassen. Zu meiner Überraschung mußte ich jedoch erst eine halbe Stunde warten, obwohl das Geschäft nicht leer und nicht verschlossen war. Nein, erst zur festgelegten Stunde durfte man den Kauf tätigen. In der Zwischenzeit ließ ich die Blasen lüften. Alles gut, solange ich nur sitzen konnte, aber schmunzeln mußte ich trotzdem. „Ils ne s’en font pas!“ witzeln die Hauptstadtfranzosen über die Bewohner der Provinz. Nein, hier tat sich wirklich niemand Gewalt an, riß sich kein Bein aus und überstürzte keine Ereignisse. Ich saß, die Chance nu t zend, noch lange da und beobachtete das Leben in Miniatur. Auf dem geschnit z ten Dachbalkon im Haus gegenüber hing eine junge Frau ein halbes Dutzend frisch gemalter Ölbilder zum Trocknen aus. Wie nasse Wäsche. Der Wind wehte ein paar völlig sinnlose Gesprächsfetzen heran. Zwei Autos fuhren in einer Stunde vorbei. Eines blieb sogar kurz stehen, aber keiner stieg aus. Es war u n mißverständlich klar, daß an diesem Ort heute nichts
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