Bis ans Ende des Horizonts
mit den Füßen auf den Boden klopften – ob sie irgendeine Geste wiedererkannte, die sie mit ihm in Verbindung bringen konnte? Als ob sie sich einen halb vergessenen Traum wieder ins Gedächtnis rufen wollte, irgendein Bruchstück, das sich mit anderen Teilen zu einem klaren Bild zusammenfügen ließ. Gleichzeitig war ihr sehr wohl bewusst, dass sie heute ihr Bestes geben musste, denn falls er unter den Zuhörern war, wollte sie einen besonderen Eindruck auf ihn machen. Nicht nur mit der Odyssee, die sie auf sich genommen hatte, um ihn zu finden, sondern auch mit der Musik, die sie von ihm gelernt und ständig geübt hatte.
Als das Konzert vorbei war, reihten sich die meisten Soldaten auf, um sich Autogramme auf ihre Helme geben zu lassen. Aber unter den Dutzenden von Männern, denen sie die Hand drückte, war James nicht dabei. Ohne sich vorher umzuziehen, begab sich Pearl anschließend schnurstracks in ihrem roten Kleid und mit der blonden Perücke zur Kommandobaracke. Der Sergeant las gerade eine etwas vergilbte Zeitung, die Füße hatte er auf eine Whiskykiste gelegt.
»Das war ja mal ’ne verdammt nette Abwechslung«, sagte er, ohne von seiner Lektüre aufzuschauen. »Aber über eines sollten Sie sich völlig im Klaren sein, Gefreiter: Hier befinden Sie sich auf meinem Territorium, und ich werde dafür sorgen, dass ihr Clowns so schnell wie möglich wieder nach Lae zurückgebracht werdet.«
Sie versuchte zu protestieren, doch der Hauptmann schnitt ihr das Wort ab und erklärte ihr, dass es zu gefährlich war, von hier aus noch an andere Standorte weiter im Norden zu fahren, da sich überall in der Bergregion Japaner versteckten. »Was wollt ihr denn machen, wenn sie auf euch losgehen?«, spottete er. »Wollt ihr euch mit der Handtasche wehren?«
Pearl erwiderte, dass alle Musiker das übliche Kampftraining in der Grundausbildung erhalten hatten.
»Ich bin seit fünfundzwanzig Jahren beim Militär, Gefreiter, und ich denke nicht daran, mir von einem niedlichen kleinen Aussie in rotem Kleid und mit einer Perücke auf dem Kopf sagen zu lassen, was ich zu tun und zu lassen habe. Heute Nacht seid ihr zum Wachdienst eingeteilt, und danach werdet ihr umgehend dorthin verfrachtet, wo ihr herkommt.«
Pearl sah ein, dass es keinen Sinn hatte, sich weiter mit ihm zu streiten, deshalb fragte sie ihn nur noch, ob er einen Gefreiten James Washington kannte.
Der Offizier senkte die Zeitung und fixierte sie mit seinen Krötenaugen.
»Was wollen Sie denn von dem?«
Pearl zuckte die Achseln.
»Wollt ihr aus eurem Konzert noch eine kleine Nigger-Show machen, was?«
»Ich habe gehört, dass Washington in diese Nachschubeinheit in Nadzab versetzt wurde.«
»Und wann haben Sie davon gehört, Gefreiter?«
»Vor sechs Tagen.«
Sergeant Thomas schwang seine Füße von der Kiste herunter. »Tja, vor sechs Tagen stand Ihr teurer Freund in der Tat hier unter meinem Kommando. Falls ihr es geschafft hättet, wie geplant, bereits gestern hier zu erscheinen, hätten Sie es sich mit Ihrem Kumpel höchstwahrscheinlich noch im PX bei einer gemeinsamen Flasche Bier gemütlich machen können.«
»Aber was ist denn passiert?«, fragte Pearl. »Wo ist er denn jetzt? Wurde er verwundet?«
Der Offizier erhob sich und lehnte sich nach vorn über seinen Schreibtisch. »Gestern Nachmittag ist Ihr lieber Freund, der Gefreite Washington, aus der Armee der Vereinigten Staaten desertiert. Ein klarer Fall von Verrat, wenn Sie mich fragen. Haben Sie sonst noch Fragen zu Ihrem Niggerfreund?«
18
Das Glas, aus dem Pearl ihr Bier trank, war ehemals eine Bierflasche; der obere Teil war mit einem heißen Draht abgetrennt worden. Die Kante fühlte sich ziemlich rau an, und das Bier war ziemlich warm, doch sie trank mit grimmiger Entschlossenheit weiter. Es war mittlerweile egal, ob sie betrunken wurde, die Kontrolle über sich verlor und dadurch ihre wahre Identität ans Tageslicht kam. Sie trug noch immer das rote Kleid und die Perücke und saß auf einem Hocker in der bedrückenden Atmosphäre des PX -Ladens. Sie schwitzte so stark, dass ihre Schminke zerlief, die Salbe gegen die Moskitos vermischte sich mit dem Reispuder des Make-ups und rann in milchigen Streifen über ihr Gesicht. Sie klopfte das primitive Glas zweimal auf die Theke, und der Verkäufer goss ihr ein frisches Bier ein. Der kleine Welpe kam herein und lief auf seine Ecke in der Baracke zu. Er legte sich auf den Bauch, senkte den Kopf auf die Vorderpfoten und sah Pearl
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