Bis ans Ende des Horizonts
lang geworden und seine Haut viel dunkler. Sie war so erschrocken, dass sie beinahe aufgehört hätte zu spielen. Aber dann sahen sie einander in die Augen, und durch seinen Blick flehte er sie an, unbedingt weiterzuspielen. Sie blies umso kräftiger in das Saxofon, als eine Handgranate in der Schlucht explodierte und der Japaner sie anschrie. Offenbar verlangte er, dass sie aufhörte zu spielen. Um sie herum donnerten mehrere Gewehrsalven los, doch sie spielte unbeirrt weiter. Dann traf sie ein blendender Lichtblitz, worauf ein zuckender Schmerz ihren Nacken entlanglief. Sie sank zu Boden und glaubte in einen sehr tiefen Brunnen zu fallen. Ihr Saxofon verabschiedete sich mit einem letzten wimmernden Laut.
Pearl hörte es heftig regnen und spürte einen Schmerz am Hinterkopf. Dann hörte sie ein Bellen. Als sie sich ein wenig bewegte, merkte sie, dass sie auf einer harten Unterlage lag und vor Kälte zitterte.
Pearl stöhnte und öffnete ein bisschen die Augen. Zu ihrer Überraschung blickte sie auf ein Kabelgewirr über ihr und erkannte, dass sie sich im Innern eines Flugzeugs befand. Deshalb dachte sie zuerst, sie würde fliegen – oder irgendwohin geflogen werden, aber die Maschine bewegte sich nicht. Und dann begriff sie, dass sie noch am Leben war und dass das Bellen von Pup kam, die mit der Zunge ihren Hals und ihr Gesicht liebkoste. Sie nahm einen bekannten Geruch war, etwas Dumpfes und Erdhaftes, so vertraut wie der Geruch von frisch gemähtem Gras oder ihres Schweißes.
»Wie geht es meinem Sonnenschein?«, fragte jemand. »Wie geht es meinem Liebling?«
Zuerst dachte sie, es sei ein Geist oder eine Erscheinung, die ausgestreckt neben ihr lag, den Kopf auf eine Hand gestützt. Er war sehr hager, seine Haare waren länger als früher und von Silberfäden durchzogen, doch sein Geruch war derselbe wie immer – ein Hauch, ein bisschen zitronig. Als er ihr Gesicht berührte, spürte sie ihr Blut durch die Adern strömen, und ihr klangen die Ohren. War das alles nur ein Traum? Konnte es Wirklichkeit sein? Wo waren sie jetzt, und wie konnte es sein, dass sie sich im Innern eines Flugzeugs befanden, womöglich im Rumpf der abgestürzten Maschine?
Er nahm sie in die Arme und küsste sie auf die Augen, am Ohrläppchen, am Hals, während der kleine Hund um sie herumsprang und mit dem Schwanz hin und her wedelte. »Liebling«, murmelte er, »dein Freund hat mir erzählt, wie alles gekommen ist. Wanipe. Er hat mir die ganze Geschichte erzählt.«
James stützte ihren Kopf und hielt ihr eine Feldflasche mit Wasser an die Lippen. Sie trank etwas, verschluckte sich zunächst, dann trank sie richtig. »Kann mir gar nicht vorstellen, wie du das fertiggebracht hast. Dich als Martin auszugeben. Dass du es bis hierher geschafft hast …«
Pearl erhaschte zufällig einen Blick auf sein Bein, das mit einem blutgetränkten Lappen umwickelt war, und schrie auf, als hätte jemand auf sie eingestochen.
»Keine Sorge, mein Liebling.« Er stellte die Feldflasche ab und legte seinen Arm um sie. »Das ist nur eine Fleischwunde.«
Sie hob die Hand an ihren Kopf und stellte fest, dass er ebenfalls bandagiert war. »Sonnenschein, du kannst froh sein, dass du noch am Leben bist. Eine Kugel hat dein Ohr gestreift. Einen Zentimeter näher, und du wärst jetzt im Himmel.«
Sie sah sich um, ihr Herz schlug heftig. So viele Gefühle überkamen sie gleichzeitig – Erleichterung, Überschwang, Verwirrung –, dass ihr fast der Atem stockte. »Aber wie kann das sein? Wie sind wir hierher …?« Sie drückte ihr Gesicht gegen seine nackte Brust.
James schloss seine Arme fest um Pearl, strich ihr über die Haare oder vielmehr rubbelte er seine Hand über ihre kurzen blonden Stoppeln. »Es ist alles in Ordnung. Liebling. Du ha ttest einfach nur einen Zusammenbruch. Wegen des Schocks, nehme ich an.«
»Wo sind die anderen?«, flüsterte sie. »Wo ist Wanipe?«
Als sie ihm direkt in die Augen sah, dachte sie, das war ebenfalls etwas an ihm, das sich nicht verändert hatte: diese graublauen Augen.
»An jedem Tag«, murmelte er, »und in jeder Nacht. Ich musste immer an dich denken, Pearl. Ich dachte, wenn ich fortgehe, würde es irgendwann besser, leichter, aber …«
Er schüttelte den Kopf und setzte sich auf. Sie sah, wie der Regen gegen das zerborstene Fenster des Cockpits trommelte. Er drehte sich eine Zigarette und hielt den Kopf gesenkt, als wäre er außer Atem und könnte nicht mehr sprechen. »Ich kann es noch immer nicht
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