Bis ans Ende des Horizonts
ebenfalls vollkommen durchnässt, und beim Gehen quatschten seine feuchten Schuhe.
»Dieser Kerl ist auch soeben erst nach Hause gekommen!« Clara nickte in Martins Richtung. »Ich habe wegen euch Todesängste ausgestanden.«
Martin registrierte Pearls derangierten Zustand und meinte in ironischem Ton: »Na, haben wir uns mit den Japsen einen kleinen Ringkampf geliefert?«
»Du hast doch überhaupt keine Ahnung!« Anschließend sprudelte alles aus ihr heraus, was sie in der vergangenen Nacht im Luna Park erlebte hatte, sie berichtete von den ohrenbetäubenden Bombenexplosionen und wie sie in dem Tumblebug-Karussell die ganze Nacht lang Schutz und Deckung gefunden hatte.
»Ich dachte, ihr beiden wolltet gestern Abend mit Nora und diesem Neger Bridge spielen«, bemerkte Clara in ätzendem Ton.
Pearl warf Martin einen panischen Blick zu. Die Ausrede, die ihr Zwillingsbruder und sie sich ausgedacht hatten, hatte sie inzwischen vollkommen vergessen.
»Haben wir ja auch«, erklärte Martin, »jedenfalls am Anfang.« Er streckte seine Zigarette seinem Vater entgegen, der sie mit einem Streichholz anzündete. Dann rauchte er einige Züge, während alle Übrigen – insbesondere Pearl – darauf warteten, dass er fortfuhr. »Aber unser Freund fand das mit der Zeit zu langweilig und wollte lieber ins Kino gehen« – er zog erneut an der Zigarette –, »und Pearl und Nora sind unterdessen lieber in den Luna Park gegangen.«
Pearl bewunderte die Gelassenheit, mit der Martin seinen Eltern etwas vorflunkerte, so sehr, dass sie sich zwingen musste, ihm nicht demonstrativ auf die Schultern zu klopfen und selbst darüber in Lachen auszubrechen.
»So?«, sagte Clara. »Und was für einen Film habt ihr euch angesehen?«
» Keep ’ Em Flying . Mit Abbott und Costello. Du weißt schon, die beiden Komiker«, antwortete Martin wie aus der Pistole geschossen. »Als wir im Kino saßen und draußen die Bomben explodierten, dachten der Neger und ich zuerst, das sei Teil von deren knalliger Show. Aber nur so lange, bis die Leinwand dunkel wurde und die Platzanweiser alle Besucher ins Untergeschoss scheuchten.« Martin tippte ganz beiläufig die Asche von seiner Zigarette und nahm noch einen Zug. »Da sind wir dann die ganze Nacht über geblieben, und alle haben Matrosenlieder gesungen.«
Mit vollem Grinsen sah er Pearl direkt in die Augen. Und sie strahlte ihn überaus dankbar an. »Und Nora und ich«, fügte sie hinzu, »hatten einfach zu viel Angst, um irgendwo anders hinzugehen. Deswegen haben wir uns die ganze Nacht über in diesem Tumblebug versteckt.«
Aubrey nickte und tätschelte Pearls Hand. »Das war eine gute Idee, mein Kind. Wenigstens ist alles gut gegangen.«
Clara seufzte und schüttelte den Kopf. »Dann rein mit euch beiden und vor den Kamin, bevor ihr euch noch eine s chlimme Erkältung holt.« Sie trieb alle vor sich her ins Inner e des Hauses, wo Großmutter Lulu in einem Schaukelstuhl döste und Mikey Michaels ein Bild von einem brennenden Schiff malte.
Aubrey schaltete das Radio ein, um die neuesten Nachrichten zu hören. Die Stimme des Sprechers klang leise und sogar ein wenig aufgebracht, als er die aktuellen Berichte vorlas: Am vorangegangenen Abend waren drei japanische Mini-U-Boote in den Hafen vorgedrungen. Es war ihnen gelungen, die magnetischen Unterwasser-Detektoren im Hafen zu überwinden. Einige Stunden lang waren sie unter den Hafenfähren hin und her gekreuzt. Bis jetzt waren keine Vorkehrungen getroffen, um die Stadt zu verdunkeln, weil bisher niemand angenommen hatte, dass Sydney Ziel eines feindlichen Angriffs sein könnte. Selbst die Marinebasis in Garden Island lag als Ziel völlig offen und ungeschützt bloß und erhellte den Hafen mit Hunderten von Bogenlampen, bevor man sie später endlich abgeschaltet hatte. Zu diesem Zeitpunkt war es allerdings schon zu spät gewesen – wie sich Pearl lebhaft erinnerte.
Allen war klar, dass der Krieg im Pazifik unvermittelt vor den Toren der größten Stadt Australiens angelangt war. Als Pearl diese Nachrichten zu verarbeiten versuchte, spürte sie gleichwohl eine innere Distanz zu den äußeren Geschehnissen. Einerseits gab es nun diese unmittelbare Bedrohung der Stadt, aber andererseits wäre James ohne diesen Krieg nie hierhergekommen, und ihre Wege hätten sich nie gekreuzt. Das eine hing mit dem anderen unausweichlich zusammen.
Pearl ging am darauffolgenden Tag durch die Straßen im Kings-Cross-Viertel, und dabei wurde ihr wieder stärker
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