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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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vorne anzufangen. Nur so kann ich dir einige von deinen schlechten Angewohnheiten austreiben.«
    Sie blieb stehen, atmete kaum und wartete, was er sonst noch zu sagen hatte, doch er wühlte lediglich in einer seiner Hosentaschen.
    Als er gefunden hatte, wonach er suchte, hielt er es in die Höhe. Es war ein flacher kleiner Gegenstand von heller Farbe, der in eine Zellophanhülle verpackt war.
    »Du weißt ja nicht einmal, wie man ein Rohrblatt richtig in ein Mundstück einspannt. Deines war einfach zu lose.« Er drückte ihr das Rohrblatt in die Hand. »Damit fangen wir erst mal an.«
    Über die Hafenbrücke gingen sie in die Stadt zurück. Die Gebäude am anderen Ende der Brücke waren mit einem Kranz von Rauch und Dunst umgeben, und sie schienen alle unzerstört zu sein. Pearl konnte die graue Kuppel des Observatoriums auf dem Millers Point erkennen, den Uhrturm an der Hauptpost, die Turmspitze der Mariner’s Church und die Pubs an den Anlegestellen am Circular Quay.
    Sie war innerlich noch erschüttert von dem nächtlichen Bombardement, ihr klangen noch immer die Ohren von den Detonationen, aber auf diesem gemeinsamen Spaziergang in Begleitung von James war sie überwältigt von dem Gefühl, dass ihr Körper in ihrem Innern erstmals völlig neue, wirkungsvolle Sekrete produzierte. Es war nicht einfach der elektrisierende Wahnsinn von Liebe oder Lust, sondern etwas anderes, das sich nicht so ohne Weiteres fassen ließ. James hatte ihr inzwischen versichert, dass er ihr Unterricht erteilen wollte, wann immer er die Erlaubnis erhielt, sein Camp zu verlassen. Diese Aussicht und das gemeinsame Erlebnis der vergangenen Stunden versetzten Pearl in eine Art Rauschzustand.
    Zwei Dinge hatte er sich mit einer gewissen Unerbittlichkeit ausbedungen: Erstens, dass sie das, was er ihr beibrachte, mindestens vier Stunden am Tag übte, und zweitens, dass sie sich ein neues Saxofon anschaffte. Das alte Varieté-Saxofon ihres Vaters, auf dem sie spielte, befand sich in einem miserablen Zustand.
    James hatte bereits im Booker T. Washington Club das angeschlagene Metall und die ausgeleierten Dämpfer bemerkt und dass die beiden unteren Klappen nur mit Gummibändern gehalten wurden.
    »Wenn du wirklich ernsthaft spielen willst, Pearl«, sagte er zu ihr, »musst du dir ein gutes Instrument zulegen. Nicht so eine verbeulte Röhre, mit der dein Daddy sich zum Narren gemacht hat.«
    »In Ordnung«, murmelte sie kleinlaut und betroffen, denn sie wusste, dass sie sich das mitnichten leisten konnte.
    Als sie sich dem südlichen Brückenkopf näherten, hörten sie die Kommandorufe an Deck etlicher Kriegsschiffe. Kleinere Boote und Schlepper kreuzten im Hafen umher und hinterließen weiße Schaumlinien. Pearl befragte James über Amerika, sie wollte alles über die Musiker wissen, die er dort gehört hatte.
    »Hast du jemals Artie Shaw live erlebt?«, erkundigte sie sich. »Das ist mein Lieblings-Bandleader.« James erwiderte, dass er den berühmten Klarinettisten nicht nur persönlich kannte, sondern dass er mit ihm sogar einmal bei einer Jamsession außerhalb von New York zusammen gespielt hatte.
    Pearl war sprachlos. Ganz wie nebenbei, mit möglichst nonchalanter Stimme, erwähnte er außerdem, dass er schon einmal in der Band von Count Basie in Kansas City mitgespielt hatte, gemeinsam mit dem großartigen Saxofonisten Lester Young. Er war mit Benny Goodman auf Tournee in den Südstaaten unterwegs gewesen. Er hatte den bekannten Posaunisten Jack Teagarden in New York kennengelernt, war gemeinsam mit ihm an einem Abend in einer Bar in Harlem versackt. Und eines schönen Tages hatte er den berühmten kleinwüchsigen Schlagzeuger Chick Webb über den Haufen gerannt, als dieser tief gebückt durch das Foyer des Apollo Theater in Harlem gelaufen war.
    Dafür berichtete sie ihm, wie sie zum ersten Mal eine amerikanische Jazzband gehört hatte.
    »Es war Sonny Clays Colored Idea «, erinnerte sie sich. »Es war ein zehnköpfiges Ensemble und dazu fünfundzwanzig Sänger und Tänzer.«
    Pearl und Martin waren noch keine vier Jahre alt, als sie von ihrem Vater Aubrey in das Tivoli Theatre mitgenommen wurden. Pearl konnte sich noch genau an den Moment erinnern, als sich der Vorhang hob und der machtvolle, völlig ungewöhnliche Sound dieser Band regelrecht über das Publikum hereinbrach. Und sie war vollkommen erstaunt, dass die Haut sämtlicher Musiker praktisch genauso schwarz war wie die Tasten eines Klaviers. Festgeklammert an den Samtbezug der

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