Bis ans Ende des Horizonts
war und er sie einfach nicht benachrichtigt hatte? Was, wenn er eine andere Frau kennengelernt hatte, die vielleicht genauso schwarz war wie er selbst?
Während sie mit Hausputz oder Mörtelrühren beschäftigt war, wünschte sie sich, ein Telegrammbote würde ihr die erlösende Nachricht bringen. Jedes Mal, wenn die Türklingel durch das Haus schrillte, ließ sie sofort alles stehen und liegen und rannte die Treppe vom Untergeschoss hoch, aber meistens war es nur irgendein wissbegieriger Nachbar, der von dem Bunkerbau gehört hatte und ihn selbst einmal in Augenschein nehmen wollte. Sie würde den Tatsachen ins Auge sehen müssen: Es war vorbei. Und das, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.
4
Am Tag ihres Geburtstages hatte Pearl vormittags noch immer kein Lebenszeichen von James erhalten. Als ihr Vater sie fragte, wann ihr Gast einträfe, konnte sie nur mit den Achseln zucken. Ihren Eltern hatte sie erzählt, dass ihr Karten spielender Freund James beiläufig erwähnt hatte, wie einsam er sich so weit weg von zu Hause fühlte, und daraufhin hätten Martin und sie ihn zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen.
Während Pearls Beziehung auf der Kippe zu stehen schien, entwickelte sich Martins Affäre mit Roma anscheinend sehr erfreulich, allerdings hatte die Aborigine deutlich gemacht, dass sie keine Eile damit hatte, die Eltern ihres Galans kennenzulernen. Da sie im Outback aufgewachsen war, war sie Weißen gegenüber misstrauisch. »Ich will damit nicht sagen, dass ich sie nicht mag«, hatte sie Martin erklärt, »doch ich bin mir nie so ganz sicher, wie ich mich ihnen gegenüber benehmen soll.«
Pearl fand diese Einstellung ganz vernünftig. Ihr Vater hatte aller Wahrscheinlichkeit nach keine Einwände, wenn sein Sohn mit einer Ureinwohnerin ausging; Aubrey war dermaßen tolerant, er hätte wahrscheinlich jedes Mädchen, egal welcher Abstammung, mit offenen Armen empfangen. Bei ihrer Mutter sah das hingegen alles ganz anders aus: Sie war streng religiös und sehr auf den Ruf der Familie innerhalb der Gemeinde und der Nachbarschaft bedacht. Natürlich war sich Pearl sicher, dass Clara nichts tun würde, was Roma offen diskriminierte, aber vermutlich würde ihr irgendein unabsichtlicher peinlicher Fauxpas unterlaufen.
Als es Zeit zum Mittagessen war, tönte das Lieblingsorchester der Zwillinge, Artie Shaw’s Navy Band , aus dem Radio, und Pearl trat ins Zimmer zu den anderen, um mit zuzuhören. Pastor Jim, ein alter Freund der Familie, saß im Wohnzimmer neben Lulu, der tauben Großmutter der Zwillinge. Mr Bones wärmte sich am Feuer, und Mikey Michaels saß am Boden und spielte mit Bauklötzen. Als niemand hinsah, leerte Pearl heimlich eine halbe Flasche Brandy in die Obstbowle, die ihre Mutter zubereitet hatte. Den Brandy hatte sie im Badezimmer versteckt gehalten. Dann trank sie schnell hintereinander zwei Gläser Bowle, um ihre Enttäuschung zu betäuben.
Martin saß bereits am Esszimmertisch und trommelte mit den Fingern den Rhythmus von Artie Shaw’s Airmail Special . An Pearls linker Schläfe breitete sich mit einem Mal Kopfweh aus. Sie nahm den übersättigten aromatischen Küchendunst des schon länger vor sich hin simmernden Essens überdeutlich wahr. Ihr Vater schenkte ihr ein weiteres Glas Bowle ein, das sie in einem Zug leer trank. So durstig könne sie ja wohl nicht sein, bemerkte ihre Mutter.
»Ich werde bestimmt nicht verdursten«, erwiderte Pearl, »aber vielleicht vor lauter Langeweile sterben.«
Pastor Jim, mit seinem rötlichen, aufgedunsenen Gesicht, war bei seinem vierten Glas Bowle angelangt. Die Asche seiner Zigarette wirkte wie ein grauer, nach unten gebogener Finger und landete schließlich auf dem Bärenfell-Teppich, ohne dass er es bemerkte.
Als der Geruch von Brathähnchen die gesamte Küche einhüllte, zog Pearl ihren Vater ins Esszimmer und bat ihn, das Geflügel zu tranchieren.
»Du kannst das Essen servieren, Dad«, sagte sie. »James ist sicherlich aufgehalten worden.« Mit diesen Worten begann sie selbst damit, die drei Kerzen in der Mitte des Tisches anzuzünden.
Nachdem schließlich alle Platz genommen hatten – die Familie, Mr Bones und Mikey Michaels –, sprach Pastor Jim das Gebet und dankte dem Herrn für Pearl und Martin, die er als ein Wunder bezeichnete. Ebenfalls mit Worten der Dankbarkeit bedachte er das köstliche Mahl, das ihnen allen heute vergönnt war – in diesen Zeiten von Not, Tod und Zerstörung. Zum Schluss bat er Gott um Frieden und dass er
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