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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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nicht. Manchmal nickte sie, wenn man ihr eine Frage stellte, und bisweilen schüttelte sie den Kopf, wenn ihr irgendeine Äußerung missfiel. Ihr Arzt meinte, ihre Bewegungen des Kopfes seien eher zufällig und keine echten Reaktionen auf etwas, das sie gerade gehört hatte.
    Es dauerte nicht lange, bis die Bowle und der Wein die gewünschte Wirkung zeigten: Das Huhn schmeckte nicht mehr so angebrannt, der Kohl wirkte nicht mehr so feucht und die Erbsen nicht mehr so trocken. Aus dem Grammofon tönten knisternd Aubreys Lieblingsaufnahmen aus seiner Vaudeville-Zeit.
    Als der Tisch schließlich abgeräumt wurde, waren alle mehr als ein bisschen beschwipst. Während die Frauen die Teller abkratzten und verwertbare Reste im Eisschrank verstauten, nahmen die Männer im Wohnzimmer Platz und bedienten sich an den Sumatra-Zigarren, die Martin auf dem Schwarzmarkt ergattert hatte. Bald war der ganze Raum von aromatischen Rauchschwaden erfüllt, die nach Nelke und anderen Gewürzen dufteten.
    Pearl, die nicht das Gefühl hatte, dass James sich sonderlich um sie bemühte, glitt durch den Raum und ließ sich in seinen Schoß fallen. Pastor Jim schaute sie wie vom Donner gerührt an und begann zu husten. Aubrey gab einen gedämpften, lang anhaltenden Pfiff von sich, der signalisieren sollte, er sei angeblich schockiert.
    »Schluss jetzt damit!«, rief Clara.
    James stupste Pearl von seinem Schoß, und plötzlich sah sie ein, wie dümmlich sie sich benommen hatte. Sie wollte erwachsen und weltgewandt erscheinen, doch ihr Verhalten war ganz kindisch.
    James nahm sein unausgepacktes Geschenk von der Anrichte und übergab es ihr erneut. Sie zog die blaue Schleife auf und wickelte das schlichte braune Einschlagpapier ab. Vom Aussehen her wusste Pearl bereits, dass es sich nur um eine Grammofonplatte handeln konnte, aber als sie das Label gelesen hatte, war sie so begeistert, dass sie ihn am liebsten fest in die Arme genommen hätte, doch sie beherrschte sich diesmal. Es war eine Aufnahme von Sonny Clays Colored Idea.
    Sie drehte sich zu ihrem Vater um. »Erinnerst du dich, dass du uns mal zu einem Sonny-Clay-Konzert mitgenommen hast, als wir klein waren?«
    Aubrey nickte.
    Martin nahm Pearl die Platte aus der Hand. »Das war eine tolle Band. Wirklich ganz toll.« Er wandte sich an James. »Und Vater erzählt immer, dass Pearl in Tränen ausbrach, als sie auf die Bühne kamen. Sie fürchtete sich vor all den schwarzen Männern.«
    »Warum?«, wollte James wissen.
    »Weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben Schwarze zu Gesicht bekam.«
    James blickte Pearl stirnrunzelnd an.
    »Ich war damals noch ein kleines Kind«, beeilte sie sich zu sagen. »Und als sie zu spielen anfingen, habe ich sowieso mit dem Weinen aufgehört.«
    James schüttelte kurz den Kopf, sagte jedoch weiter nichts. »Außerdem gehörten etliche Stepptänzer zu der Truppe«, fügte sie hinzu.
    Martin zog die Platte aus ihrer beigefarbenen Schutzhülle und legte sie auf den Plattenteller. »Noch Wochen danach«, plapperte sie weiter, »haben Martin, Charlie Styles und ich Kronkorken auf unseren Schuhsohlen befestigt, weil wir die Tänzer nachahmen wollten. Erinnerst du dich?«
    Nachdem er das Grammofon aufgezogen hatte, hob Martin die Nadel auf die Plattenrillen. Der Anfang des Plantation Blues klang durch den Raum.
    Das Klimpern eines Banjos, das tiefe Brummen einer Tuba sowie einige leicht verstimmte Klarinetten trieben die Melodie voran.
    Claras Lippenstift war inzwischen etwas verschmiert; er haftete an den Vorderzähnen und war in die Fältchen rund um ihren Mund geraten. »Aber könnt ihr euch erinnern?«, sagte sie. »Die ganze Band wurde in Melbourne in Polizeigewahrsam genommen.«
    »Weil sie Jazzmusik gespielt haben?«, fragte James.
    Clara schüttelte den Kopf. »Nein, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Eines Abends führte die Polizei in ihrem Hotel eine Razzia durch und ertappte sechs Mitglieder der Band im Bett und jeden zusammen mit einer weißen Frau.« Sie holte tief Luft. »Und alle waren so nackt wie an dem Tag, als sie das Licht der Welt erblickten. Splitternackt. Kann man sich so etwas vorstellen?« Sie spitzte pikiert die Lippen. »Oder möchtest du dir so etwas vorstellen?«
    James rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, und seine Augenlider flatterten.
    »Na ja«, meinte Pearl, um der Darstellung ihrer Mutter ein wenig die Spitze abzubrechen, »Männer sind nun mal Männer, egal welche Hautfarbe sie haben.«
    Clara ging schwankenden

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