Bis ans Ende des Horizonts
noch nicht fortkönne und dass Merv sich vielleicht nach einem zeitweisen Ersatz umsehen sollte.
Elf Tage nach ihrem ersten Gehirnschlag erlitt die alte Frau einem weiteren Schlaganfall und fiel in ein tiefes Koma. Alle Familienmitglieder fassten sich an den Händen, umstanden im Kreis das Bett und begannen zu beten. Manchmal verlangsamte sich das Heben und Senken von Lulus Brust beim Atmen. Zeitweilig setzte es sogar ganz aus. Und daraufhin lehnten sich alle mit angehaltenem Atem vor, als würde jeder bereits den Tod der Großmutter vorwegnehmen.
So verging auch die folgende Nacht, doch im Morgengrauen des nächsten Tages öffnete Lulu völlig unerwartet die Augen. Sie blinzelte ein paarmal, denn anscheinend konnte sie die Menschen um sie herum nicht richtig erkennen. Sie schluckte; ihre Lippen begannen zu zittern. Und dann, nach all den Jahren des Schweigens, gab sie einen deutlich hörbaren Laut von sich.
»Ich …«, sagte sie.
Clara und Aubrey wechselten einen Blick. Pearl rannte nach draußen, um eine Schwester zu finden, die auch sofort an Lulus Bett eilte und ihren Puls fühlte.
»T…te«, fing Lulu erneut an zu sprechen. Die Schwester maß noch den Blutdruck, während Lulu die gleiche Silbe immer und immer wieder wiederholte.
»Möchtest du eine Tasse Tee?«, fragte Clara schließlich.
Lulus Augen fingen an zu strahlen, und sie lächelte.
Pastor Jim und Clara waren überzeugt, dass vor ihren Augen ein Wunder geschah, ein Zeichen und eine Gnade Gottes angesichts ihrer Geduld und ihrer Gebete. Aber als die Ärzte kurz darauf Lulu untersuchten, stellten sie fest, dass das Hör- und das Sprechvermögen teilweise wiederhergestellt worden waren. Irgendwie waren durch den zweiten Schlaganfall die Gehirnzellen wieder aktiviert worden. So etwas komme bisweilen vor, ausgelöst durch die elektrischen Impulse eines Gehirnschlages.
In den nächsten vier Tagen wurde genau überwacht, wie sich Lulus Zustand besserte. Die Ärzte äußerten sich sehr überrascht, dass sie allem Anschein nach keinen bleibenden physischen Schaden davongetragen hatte, lediglich zwei Finger ihrer linken Hand konnte sie nicht mehr so bewegen wie früher. Sie erhielt noch ein Rezept für ein Medikament, das ihren Blutdruck regulieren sollte, und wurde aus dem Krankenhaus entlassen. Als sie nach Hause in die Victoria Street zurückkehrte, ging es ihr besser als zuvor.
10
Von nun an war es so, als sei ein Kleinkind im Kreise der Familie angekommen, das gerade anfing zu sprechen, indem es Töne und Silben von sich gab, die nach und nach sinnvolle Wörter und Sätze bildeten. Lulu sagte Dinge wie »nett«, »Guten Tag« und »ich will«. Die Zwillinge gaben sich alle Mühe, das wiedergewonnene Hören und Sprechen ihrer Großmutter zu fördern, indem sie viel mit ihr redeten und ihr Geschichten erzählten. Sie setzten sich abends zu ihr ans Bett oder kuschelten sich vor dem Kamin im Wohnzimmer zusammen wie in ihrer Kindheit.
Martin konnte die tollsten Geschichten zum Besten geben. Er erzählte, wie er mit seiner Einheit durch die Bergbaustädte und Wälder Westaustraliens gefahren war, wo sie in Militärcamps und in Krankenhäusern, auf Uferpromenaden und in Bananenplantagen Konzerte gegeben hatten. Einmal hatte es sogar eine Aufführung in einer Leprakolonie australischer Ureinwohner auf einer abgelegenen Insel gegeben.
Auf einer Überfahrt nach Alice Springs war ihnen der Bus gestohlen worden. Sie hatten in der Stadt in der Mitte des Kontinents zwei Nachmittagsvorstellungen gegeben, und anschließend hatte ihr Vorgesetzter für eine Runde Bier an einem Pub anhalten lassen. Was als kleine Belohnung gedacht war, entartete zu einem Gelage mit fünf oder sechs Bier für jeden. Als ein gewisser Heiterkeitsgrad erreicht war, ließ der Zauberkünstler der Truppe zum höchsten Erstaunen der ortsansässigen Mitzecher Zigaretten in seinen Nasenlöchern verschwinden. Doch als die Truppe schließlich wieder nach draußen ging und weiterfahren wollte, hatte sich auch der Bus zunächst in Luft aufgelöst. Am nächsten Tag machte sich der Besitzer des Pubs gemeinsam mit Merv Sent und Martin auf die Suche. Sie fuhren aus der Stadt heraus am ausgetrockneten Flussbett des Todd River entlang, und nach einer Weile entdeckten sie tatsächlich das Gefährt. Es hatte eine Delle an einer Seite, und einer der Außenspiegel war abgebrochen. Drinnen fanden sie vier halbwüchsige Aborigine-Kinder: Zwei waren auf den Sitzen eingeschlafen, und die anderen beiden
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