Bis ans Ende des Horizonts
hatte sie noch nie jemand angesprochen.
»Ich muss hier etwas abliefern«, sagte sie in bemüht barschem Ton.
Der MP drehte sie zu sich her. »Hier dürfen keine Aussies rein.«
»Was wollen Sie von mir?« Sie machte sich mit einer unwirschen Bewegung wieder los. »Wir haben einen Anruf bekommen. Von Artie.«
»Aber klar.« Er stieß sie weg, die Treppe hinunter. »Artie Shaw persönlich hat bei dir angerufen und dich zum Konzert eingeladen.«
Sie versuchte sich gegen ihn zu wehren. »Es geht um seinen Saxofonspieler – Sam Donahue –, sein Instrument ist in der Airbase gestohlen worden. Mein Käpt’n hat mich hergeschickt, Castigan.«
Der MP zog die Augenbrauen zusammen und musterte sie von oben bis unten. »Was hast du gesagt, wie er heißt?«
»Castigan.«
»Nein, der Saxofonspieler.«
Er fixierte sie mit seinem Blick, seine Lippen waren angespannt, und er legte eine Hand an die Pistolentasche.
»Wenn er das hier nicht bekommt« – sie hielt den Kasten in die Höhe –, »dann macht Artie Hackfleisch aus dir, Kumpel. Donahue ist sein bester Musiker.«
»Du brauchst mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe.« Der MP gab ihr einen Stoß vor die Brust. »Ich habe Donahue schon in Chicago gehört, als du dir noch in die Windeln geschissen hast.«
»Aber heute Abend wirst du nichts von ihm zu hören bekommen, wenn du mich jetzt nicht gleich durchlässt.«
Der MP warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Er murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin, schubste sie dann die Treppe hoch, vorbei an den Soldaten in der Warteschlange, und öffnete die Tür des Foyers für sie.
Pearl sog sogleich den vertrauten Lilienduft ein, denn große Sträuße standen wie immer in den Vasen im Eingangsbereich, und durch das Gedränge der Soldaten konnte sie ab und zu den scharlachroten Teppichboden, die Wandmalereien und die mit cremefarbenem Samt bezogene Bestuhlung erkennen. Sie spürte eine große Erleichterung – nicht nur weil sie nun zum ersten Mal ein Konzert von Arties Band miterleben konnte, sondern weil sie sich seit langer Zeit endlich einmal wieder in diesem Ballsaal aufhielt; für sie war es immer ein Ort der Freude und des Vergnügens.
Sie drückte sich an einer Gruppe Soldaten vorbei, allerdings war sie noch nicht bis zur Bar vorgedrungen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Der Militärpolizist vom Eingang drehte sie mit festem Griff zu sich herum. Neben ihm stand ein Mann in einem weißen Matrosenanzug mit Käppi, der, wie sie sogleich bemerkte, einen schwarzen Saxofonkasten in der Hand hielt. »Haben wir dich, du Schlauberger. Jetzt aber raus!« Der MP packte sie am Ärmel und schob sie unsanft durch die Menge, zu den Schwingtüren hinaus und die Treppe hinunter auf die Straße. Sie geriet auf dem Gehweg ins Stolpern, fiel hin und landete auf Martins Instrumentenkasten.
Sie musste einen Moment liegen bleiben, bis sie wieder zu Atem kam. Die Amerikaner in der Warteschlange ließen einige Spottrufe und Pfiffe hören. Ihre rechte Hand brannte, weil sie den Sturz abfangen wollte und sich dabei die Handfläche aufgeschürft hatte. Ihr Bluff hatte sich zu guter Letzt also doch als unzureichend erwiesen, und sie schimpfte innerlich auf ihr Pech. Wer hätte auch vorhersehen können, dass der echte Sam Donahue nur wenige Augenblicke nach ihr mit seinem Instrument in der Hand im Trocadero aufkreuzte?
Sie stützte sich auf ihren Ellbogen, um sich wieder aufzurichten, doch dabei schoss ihr ein durchdringender Schmerz durchs rechte Knie und von dort ins obere Bein, dass sie unwillkürlich und mit unverkennbarer Frauenstimme aufjaulte. Die umstehenden GI s brachen in schallendes Gelächter aus. »Der kleine Aussie hat sich wehgetan!«, mokierten sie sich.
Unverhofft spürte sie, wie sich von hinten zwei Arme um sie schlossen und ihr jemand half, sich aufzurichten. Die Soldaten buhten und zischelten.
»Missetäter und Neger stecken immer unter einer Decke.«
»Gauner und schwarzes Gesindel.«
Dann kamen Orangenschalen und leere Streichholzschachteln angeflogen. Ein Apfelbutzen traf sie zwischen den Augen. Während sie sich wegduckte, schaute sie aus den Augenwinkeln nach dem Mann, der ihr zu helfen versuchte, und als sie ihn erkannte, schienen fünfzig Schmetterlinge in ihrem Bauch aufzuflattern, und sie fürchtete, ihr Kopf könnte zerplatzen. Seine Haut war dunkler, als sie es vom vorigen Jahr in Erinnerung hatte, und er wirkte deutlich älter – seine Augen waren gerötet, die Wangen
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