Bis ans Ende des Horizonts
Schlürfen, wie sie einen Drink zu sich nimmt.
»Das Einzige, was ich in diesem Augenblick mit Sicherheit wusste, war, dass ich ihn wiedersehen wollte. Und es war mir vollkommen egal …« Ihre Stimme bricht ab. Im Hintergrund kann man eine Polizeisirene hören. »Es wäre mir sogar egal gewesen, wenn ich … selbst wenn ich nicht …«
Ich sitze gespannt auf der Stuhlkante und warte darauf, dass sie endlich auf den Punkt kommt. Jetzt ist auf dem Band ein Rauschen zu hören, wie bei einem schlecht eingestellten Fernseher. Dann folgt aus den Lautsprechern ein Geräusch, als ob Papier zusammengeknüllt wurde, darauf folgt ein Jaulen. Ich blicke entsetzt auf das Gerät: Das Laufwerk unter der Kassette dreht sich immer langsamer, und das Tonband scheint vom Gerät aufgefressen zu werden.
Ich haue auf die Stopp-Taste und drücke dann auf »Eject«; die Kassette fällt aus dem Schlitz heraus. Zum Glück ist das Band nicht zerrissen, sondern in dem Gerät hat sich ein wirrer Bandsalat gebildet, der aussieht wie eine üppige, braun schimmernde Verpackungsschleife. Ich gehe ins Badezimmer, um nach einer Pinzette zu suchen. Mit klopfendem Herzen und zitternden Fingern durchwühle ich die Schubladen des Badezimmerschränkchens. Noch nie war mir in meinem Leben etwas so dringend erschienen, nicht einmal als ich mit dem Schreiben meiner Krimiserie begonnen habe. Es geht mir nicht nur um die enorme Verantwortung, Pearls Biografie oder vielmehr Autobiografie zu Papier zu bringen. Ich bin ganz unmittelbar gespannt, was als Nächstes passiert, wie sich die Geschichte von Pearl und Martin weiterentwickelt. Wird sie James wiederfinden und werden sie ein Paar? Und was wird aus Martin und Roma?
In meiner Kindheit und Jugend wurde über meine Mutter nicht viel gesprochen. Das Einzige, was ich wusste, war, dass sie von einer Missionsstation außerhalb von Dubbo kam und noch eine Jugendliche war, als sie schwanger wurde, und dass Martin sie damals kaum kannte. Sie starb kurz nach meiner Geburt an Lungenentzündung. Ich habe nie ein Foto von ihr gesehen, aber mein Vater erzählte mir, sie sei außergewöhnlich schön gewesen, mit üppigem auf die Schultern fallendem schwarzem Haar und bernsteinfarbenen Augen. Sie soll eine fabelhafte Tänzerin gewesen sein und konnte angeblich Jimmy Cagney in Yankee Doodle Dandy perfekt nachahmen; deswegen habe ich mir den Film immer wieder angesehen, um eine Vorstellung von solch einem Auftritt von ihr zu haben.
Mein eigener Sohn musste sich nie solche Umstände machen, um mich kennenzulernen. Auch wenn seine Mutter und ich uns bereits nach einem Jahr wieder getrennt haben, bekamen wir beide die Vormundschaft für Arnhem, der mittlerweile vierundzwanzig ist. Er wuchs überwiegend beim Stamm seiner Mutter auf, den Bundjalung im Norden von New South Wales. Aber seine Schulferien verbrachte er immer bei mir.
Ich habe ihn erst vor ein paar Tagen zum letzten Mal gesehen, bei der Verleihung der Deadly Awards im Opernhaus von Sydney. Dabei wurden zum ersten Mal ein Vater und ein Sohn gleichzeitig geehrt: ich für meine Verdienste um die Aborigine-Literatur; Arnhem für seine Choreografie für die Bangarra Dance Company. Wir verbrachten einen großartigen Abend miteinander und gemeinsam mit vielen alten Freunden, der mit reichlich Tequila in der Iguana Bar endete, wo wir zur Musik von Barry White tanzten.
Wo zum Teufel ist nur diese Pinzette? Das Telefon läutet, doch ich gehe nicht ran; der Anrufer kann ja auf Band sprechen. Es ist wieder der verdammte Brian Jackson, der wissen will, ob ich die Tonbänder der Live-Mitschnitte inzwischen gefunden habe. Seit ich vor einigen Wochen damit begonnen habe, Pearls Bänder abzuhören, drücke ich mich davor, mit ihm zu sprechen. Ich bringe es nicht über mich, irgendetwas aus diesem Materialfundus weiterzugeben, bevor ich nicht weiß, wie die ganze Geschichte endet, bevor ich diese Aufgabe, um die mich meine Tante gebeten hat, nicht erfüllt habe.
Ich habe seit neun Jahren keine Zigarette mehr geraucht, aber plötzlich habe ich ein starkes Verlangen danach. Ich schütte den Inhalt der obersten Schubladen des Badschränkchens auf den Boden und sortiere all die Sachen auseinander: Mini-Shampooflaschen aus Hotels, Spulen mit Zahnseide, Haarklammern, Nagelfeilen. Dann durchsuche ich die näc hste Schublade, die vollgestopft ist mit Badehauben, Rasierklingen, Heftpflastern und Puder gegen Fußpilz. Im nächsten Moment will ich die Suche abbrechen und auf die Straße
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