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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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Magenübersäuerung und Sodbrennen sowie Wood’s Great Peppermint Cure, ein Hustensaft und auch gegen Erkältungen einzunehmen.
    Angesichts all dieser Fürsorge Claras für Martin fragte sich Pearl, ob ihre Mutter sie überhaupt noch leiden konnte. War es denkbar, dass diese ganze Therapie im Krankenhaus, all das Chininsulfat und die anderen Medikamente, die ihr verabreicht worden waren, die Rückgabe des Saxofons an Palings sowie die Hochzeitsvorbereitungen von Clara nur deshalb so intensiv betrieben wurden, damit Pearl in etwas schlechtem Licht dastand, um sie sozusagen niederzuhalten? Unvermittelt gingen ihr kühne, geradezu waghalsige Gedanken durch den Kopf. Sie könnte ein paar Sachen in eine Tasche packen und in einen anderen Bundesstaat trampen, wo niemand sie kannte. Sie könnte einen anderen Namen annehmen und ihre Frisur völlig ändern, von irgendjemandem ein Saxofon borgen, erbetteln oder sogar eines stehlen und sich unter einem Pseudonym um Auftritte bemühen. Wenn der Krieg irgendwann zu Ende ging, könnten James und sie sich hoffentlich wiederfinden und irgendwo an einem Ort und in einer Umgebung leben, wo beide gleichermaßen Anerkennung fanden.
    Sie ging in den angrenzenden Waschraum, wo ihr Blick schließlich auf ihr Hochzeitskleid fiel, das an einem Wandhaken neben dem hochgestellten Bügelbrett hing: neue Abnäher am Mieder, mehrere Schichten feinen Stoff, kleine Glasperlen, die im Zwielicht schimmerten, und ein runder Ausschnitt. Nachdem sie James endlich wiedergesehen und festgestellt hatte, dass er sie noch immer ebenso sehr liebte wie sie ihn, konnte sie sich kaum mehr vorstellen, dieses Kleid zu tragen, und schon gar nicht, neben Hector in der Gemeindekirche zu stehen und das Ehegelübde abzugeben. Mochte ihr Bruder sich auch vor seinem neuen Einsatzgebiet fürchten, so beneidete sie ihn doch um die Abenteuer, die auf ihn warteten, die Aussicht, Musik zu spielen und im Hochland von Neuguinea Konzerte geben zu können. Währenddessen sollte sie in Hector Bests Reihenhaus in Millers Point wie in einer Gruft eingeschlossen sein und seine Hemden stärken und seine Möbel polieren? Sicherlich würde ihr verwitweter Schwiegervater jeden Sonntag nach der Kirche zum Mittagessen erscheinen. Hector würde ihr ein für alle Mal verbieten, als Berufsmusikerin aufzutreten. Und James würde sie nie mehr wiedersehen.
    An einem zweiten Wandhaken neben dem Hochzeitskleid hing Martins Uniform. Nachdem sie sie am Nachmittag ausgezogen hatte, war sie gewaschen und gebügelt worden: das Khakihemd, die Drillichhose, der Buschhut. Die Gamaschen und die Stiefel standen unten auf dem Boden, daneben der prall gefüllte Rucksack.
    Beim Anblick dieser beiden Ausrüstungsgegenstände fiel ihr ein Streich ein, den Martin und sie sich einmal erlaubt hatten, als sie noch Kinder waren. Eines Tages waren sie mit vertauschten Schuluniformen in die Klasse gegangen: Pearl trug Martins Jackett und seine lange Hose und er ihre Bluse und den marineblauen Rock. So nahmen sie in der Klasse ihre üblichen Plätze nebeneinander ein. Zuerst hatte die Lehrerin, Miss Winthrop, nichts bemerkt und die Schüler wie üblich aufgefordert, die Lesebücher aufzuschlagen. Pearl war an den juckenden Wollstoff der Hose nicht gewöhnt und kratzte sich daher ständig im Schritt. Miss Winthrop drehte sich dann um und schrieb etwas an die Tafel. In der Zwischenzeit hob Martin immer wieder den Rocksaum und entblößte sein Unterhöschen vor den anderen Kindern. Ein Junge, der direkt hinter ihm saß, konnte seine Kicheranfälle nicht mehr beherrschen und steckte damit alle anderen an. Als die Lehrerin das Gelächter hinter ihrem Rücken hörte, drehte sie sich unvermittelt um. Alle deuteten auf die Zwillinge, und als Miss Winthrop ihre List und den Scherz erkannte, lachte sie mit. Sie erlaubte den Zwillingen, das Spiel mit vertauschten Rollen für den Rest des Tages fortzusetzen, und sprach sie sogar ebenfalls mit den umgekehrten Namen an.
    Pearl ließ noch einmal den Blick zwischen Hochzeitskleid und Uniform hin und her wandern, und dann kam ihr eine verrückte, eigentlich völlig absurde Idee.

Intermezzo
    »Der Gedanke kam mir selbst so ungeheuerlich vor«, sagt Pearl auf Tonbandkassette Nummer zwölf, »dass ich zuerst dachte, ich sei verrückt geworden. Verrückt vor Liebe, vor Kummer und Schmerz, verrückt wegen der ganzen verdammten …«
    Sie hält inne, und ich kann das Klirren von Eiswürfeln in einem Glas heraushören, außerdem ein leises

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