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Bis ans Ende des Horizonts

Bis ans Ende des Horizonts

Titel: Bis ans Ende des Horizonts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Sayer
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lag, und schnippte damit in der Luft.
    Eine Viertelstunde später betrachtete sie sich im Spiegel. Mit ihrem abgeraspelten neuen Haarschnitt sah sie aus, als trüge sie eine hellgelbe Mütze auf dem Kopf.
    Martin brachte ihr anschließend in einer Art Schnellkurs bei, wie man antrat, Befehle entgegennahm, das Gewehr präsentierte – dafür nahmen sie einen Besenstiel – und korrekt salutierte. Sie lernte blitzschnell die Rangabzeichen. Zuerst kam es ihr alles ziemlich eigenartig vor; sie hatte das Gefühl, wie eine Marionettenfigur und mit einem stummen Partner am Arm einen Tanz einzustudieren. Doch je mehr sie sich bewegte, im Raum auf und ab ging und das Salutieren übte, desto mehr kam es ihr wie eine Konzertprobe vor, und sie spürte, wie sich ihr Körper an die neue Art, sich zu bewegen, gewöhnte.
    Pearl gab Martin einen männlich-herben Klaps auf den Rücken. »Jetzt müssen wir uns nur noch um dich kümmern.«
    Martin verstand nicht sogleich. »Was willst du damit sagen?«
    »Na ja, da ich mich inzwischen in dich verwandelt habe, musst du dich nun in mich verwandeln.«
    Martin machte eine abwehrende Bewegung mit den Händen. »Kommt gar nicht in die Tüte. Entweder sehe ich dann aus wie eine schrille Tunte oder wie ein Verrückter.«
    »Du wirst doch nicht wie ein Verrückter aussehen, sondern so wie ich.«
    Martin bedachte sie mit einem Seitenblick.
    »Meine Güte, Martin, ich habe gerade meine ganzen Haare abgeschnitten. Es gibt jetzt kein Zurück mehr. Du musst einfach nur ein Kleid und einen von meinen Hüten tragen, bis du in ein paar Stunden bei Pookies Farm angekommen bist!« Dann sprach sie mit etwas sanfterer und leiserer Stimme weiter. »Es ist aus mehreren Gründen besser, wenn du dich in eine Frau verwandelst. Sonst könnte dich jemand unterwegs erkennen.«
    Martin seufzte tief. »Du hast doch noch immer nicht die leiseste Ahnung vom Militär.«
    Seine andauernde Meckerei und Skepsis gefielen ihr gar nicht. »Hör zu, ich muss nicht an die Front und gegen die Japaner kämpfen. Ich werde nur als Teil der Band in den Camps Jazzsaxofon spielen!«
    Als er daraufhin lediglich sein Gesicht in den Händen vergrub und nichts antwortete, verlor sie die Geduld.
    »Also von mir aus«, sagte sie, »dann geh eben selbst in dein verdammtes Neuguinea. Und lass dich von mir aus dort erschießen.« Mit diesen Worten stürmte sie zum Zimmer heraus und auf die Treppe nach oben.
    Erst als sie schon dabei war, ihre Schlafzimmertür zu schließen, hatte er sie eingeholt und zischte: »In Ordnung. Du verstehst dich aufs Fluchen. Fangen wir an.«
    Nachdem Martin und sie die Kleidung und die Ausweise ausgetauscht hatten, widmete sich Pearl der schwierigsten Aufgabe. Sie musste noch einen Brief an ihre Eltern und an Hector schreiben, in dem sie erklärte, warum sie davonlief. Im Wesentlichen entsprach ihre Erklärung durchaus der Wahrheit: Sie wollte für ihr Leben gern wieder als Musikerin arbeiten, und sie wusste nur zu gut, dass dies praktisch ausgeschlossen war, solange sie in ihrem Elternhaus oder bei ihrem zukünftigen Ehemann wohnte. Was sie sonst noch schrieb, traf ebenfalls zu: dass sie allen dreien sehr liebevoll zugetan war und dass sie darauf hoffte, sie würden ihr verzeihen. Sie ließ aber auch das eine oder andere aus, beispielsweise genauere Angaben darüber, wo sie hinging, wie sie das bewerkstelligte sowie die Tatsache, dass sie einen anderen Mann liebte.
    Nachdem Pearl das Tor der Victoria-Kaserne passiert hatte, stellte sie sich zu anderen Soldaten, die sich zum Dienst zurückmelden wollten, in eine Warteschlange. Zur Vergewisserung tastete sie nach Martins Papieren in der Brusttasche, wiederholte im Stillen mehrmals seine Identifikationsnummer, seine Regimentsbezeichnung, seine Untereinheit. Ansonsten lag auch über der Stadt eine große Stille. Mehr als die gedämpft gesprochenen Angaben der Männer vor ihr, die ihre Namen und Nummern mitteilten, und dem gelegentlichen Schrei eines Vogels war nicht zu hören. Als sie nun in der Schlange weiter vorrückte, bekam sie erstmals weiche Knie, und sie beschlich der Gedanke, was passieren würde, wenn die Sache aufflog. Zum Glück stand ihr keine medizinische Untersuchung bevor, denn Martin war erst im vergangenen Jahr untersucht worden, als er einrückte.
    Weil es in der Schlange aber nur sehr langsam voranging, wurde Pearl allmählich ungeduldig. Sie stellte sich vor, dass ihre Eltern plötzlich in Morgenmänteln und Hausschuhen angelaufen kamen oder dass

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