Bis ans Ende des Horizonts
laufen, um eine Packung Marlboro und eine Pinzette zu kaufen, als mir einfällt, dass Pearl oftmals vor einer Schminkkommode saß, die ihrer Großmutter gehört hatte. Sie steht nun in einer Ecke im früheren Schlafzimmer von Clara und Aubrey.
In dem Zimmer oben im zweiten Stock wurde nichts verändert, nachdem Pearl gestorben war. Als ich die Tür öffne, sticht mir der beißende Geruch von Mottenkugeln in die Nase. Es handelt sich um einen großen Raum mit schweren Möbeln und einem Bett mit einem Baldachin.
Ich gehe gleich zu der Schminkkommode aus Mahagoni mit dem ovalen Spiegel in der Ecke. Die Schubladen sind so winzig, als wären sie für Elfen gemacht. In der obersten finde ich nur weißen Gesichtspuder, die dazugehörige Quaste und einen Metallflakon, der noch immer nach Whisky riecht. In der zweiten sind drei Lippenstifte und ein verblichener Coupon für falsche Wimpern zum halben Preis. In der dritten liegen sechs Lockenwickler und ein alter Beutel mit Pfeifentabak. In der vierten stapeln sich eine Nagelfeile, Klipse, ein paar künstliche Fingernägel, eine Sicherheitsnadel, und ganz hinten, hinter einer Dose Tiger-Balsam, entdecke ich tatsächlich eine Pinzette.
Am Schreibtisch stopfe ich mir eine von den Pfeifen meines Großvaters mit dem ausgetrockneten Tabak, zünde die Pfeife an und atme den Rauch ein. Nach einigen Zügen wird mir ein wenig schwindlig, aber die innere Anspannung fällt von mir ab. Noch ein paar weitere Züge, dann lege ich die Pfeife ab und nehme die Pinzette zur Hand. Damit fasse ich das völlig verwirrte Tonband, zupfe daran und beginne ganz vorsichtig, daran zu ziehen.
12 (Fortsetzung)
Als Pearl in der Dunkelheit kurz vor Morgengrauen vom Stadtteil Kings Cross nach Darlinghurst eilte, war sie froh, Martins Uniform zu tragen, zu spüren, wie der Drillich des Hosenstoffes an den Schenkeln rieb, sowie den festen Tritt der Stiefelabsätze auf dem Gehweg. Unterwegs wiederholte sie seine Identifikationsnummer wie ein Mantra, um sie sich einzuprägen wie die Noten eines Musikstücks oder wie die Telefonnummer von jemandem, den sie unbedingt wieder anrufen wollte. Sie wäre gerne schneller vorangekommen, aber wegen des schweren Marschgepäcks und des Instrumentenkastens mit dem Tenorsaxofon ihres Bruders konnte sie nicht schneller laufen.
Als sie endlich die Außenmauer der Victoria-Kaserne erreichte, war sie hin und her gerissen zwischen lähmender Furcht und äußerster innerer Erregung. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie in Kürze einen Punkt überschreiten würde, von wo ab alles möglich war, wonach sie sich immer gesehnt hatte: ein abenteuerliches Leben, die Art Jazz, die sie am meisten mochte, und den einzigen Mann, den sie liebte. Während sie das Kasernentor durchschritt, wurde ihr bewusst, dass sie in diesem Augenblick eine unsichtbare Grenze überquerte, die ihre Vergangenheit von der Zukunft trennte. Niemand konnte wissen, ob ein qualvoller Tod oder ein glorreicher Triumph auf sie wartete, doch nun gab es kein Zurück mehr .
Natürlich war es nicht leicht gewesen, Martin von diesem Plan zu überzeugen. Als sie vor sechs Stunden in sein Zimmer gestürmt war, hatte sie bereits mit Nora Barnes telefoniert, und ihr war nur wenig Zeit geblieben, um ihren Plan umzusetzen.
»Martin«, zischte sie.
Er drehte sich übermüdet herum und schaute auf die Uhr. »Ich bin vorhin erst eingeschlafen, Pearl.«
»Möchtest du dich noch immer davor drücken, nach Port Moresby zu fahren?«
Er rieb sich die Augen. »Wie bitte?«
»Das Militär.« Sie konnte sich nur mit Mühe beherrschen, so aufgeregt war sie. Im Wohnzimmer schlug die alte Standuhr soeben halb elf. »Jetzt steh schon auf. Wir haben nicht viel Zeit.«
»Was soll das um Himmels willen?«, stöhnte er.
In aller Kürze umriss sie für ihn ihren Plan: Er sollte von nun an ihre Kleider tragen und sich als Pearl ausgeben.
Martin verdrehte die Augen und zündete sich eine Zigarette an. »Meinst du nicht, dass Mum und Dad schnell dahinterkommen werden? Und an Hector hast du dabei anscheinend nicht gedacht?«
Ach ja, Hector. Der Gedanke an ihn hatte bei ihr den Stein überhaupt erst ins Rollen gebracht. In aller Eile erklärte Pearl, dass sie bereits mit Nora Barnes telefoniert hatte. Sie hatte ihr anvertraut, dass sie ernste Zweifel hatte, ob diese Ehe das Richtige für sie war. Wovor sie sich aber am meisten fürchtete, war die Reaktion ihrer Mutter, wenn sie sich weigerte, ihn zu heiraten. Höchstwahrscheinlich
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