Bis ans Ende des Horizonts
ein Polizeiwagen auftauchte, um sie zu holen.
Als ihr plötzlich jemand kräftig auf die Schulter schlug, rutschte ihr das Herz in die Hose.
»Willis!«, rief der Mann mit lauter Stimme.
Noch im Umdrehen war sie darauf gefasst, einem stämmigen Feldwebel mit einem Arrestbefehl in der Hand gegenüberzustehen. Stattdessen blickte sie in das Gesicht eines schlanken jungen Soldaten mit Pickeln am Kinn und schmalen blauen Augen.
»Ich habe deinen Namen auf dem Dienstplan entdeckt. Meine Güte, ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet du mir noch einmal über den Weg läufst.«
Pearl starrte ihn reichlich verblüfft an. Sie war sich durchaus darüber im Klaren, dass sie jetzt etwas erwidern sollte, fürchtete jedoch, dass ihre Stimme nicht mitspielte.
»Du hast mich gar nicht wiedererkannt, stimmt’s?«
Sie setzte noch immer etwas verwirrt ihr Marschgepäck ab.
»Ich habe ein Stück weiter in der gleichen Straße gewohnt wie ihr, als wir noch Kinder waren. Ich bin Charlie. Charles Styles.«
Sobald er seinen Namen genannt hatte, erkannte sie den kleinen blonden Jungen, der in ihrer Kinderband das Kornett gespielt hatte.
»Charlie!«, rief sie nun, dann fiel ihr ein, dass sie sich jetzt wie ein Mann benehmen musste, und gab ihm einen Schlag auf den Rücken. »Du bist es!«, sagte sie, und sie schüttelten einander die Hände. »Ihr seid irgendwann aus Sydney weggezogen, und man hat nie mehr etwas von euch gehört.«
»Ich gehöre übrigens auch zur Band«, sagte er und nahm ihr den Instrumentenkasten ab.
»Komm mit mir, du musst dich gar nicht hier zum Dienst melden.«
Pearl schulterte erneut das Marschgepäck und folgte Charlie quer über einen Parkplatz. Sie konnte es nicht fassen, dass sie so viel Glück hatte, hier einem Freund von früher zu begegnen – auch wenn sie sich seit zehn Jahren nicht gesehen hatten.
Sie kamen an einigen Soldaten vorbei, die gerade damit beschäftigt waren, Kisten auf einen Lastwagen zu verladen, bis sie bei einer Gruppe von ungefähr einem Dutzend Männern angelangt waren, die Zigaretten rauchend auf Trommelgehäusen oder ihren Rucksäcken saßen. Zwar trugen sie alle Uniform, aber Pearl bemerkte gleich, dass sie nicht so korrekt saßen wie bei den anderen Soldaten vorhin in der Warteschlange. Einer hatte seinen Hut in den Nacken gestülpt, ein anderer hatte keine Schnürsenkel an den Stiefeln, und einige trugen die Hemdsärmel aufgerollt.
»Das wird aber auch Zeit, Willis«, begrüßte sie ein ungefähr fünfzig Jahre alter Mann mit rötlichem Gesicht und lockigen schneeweißen Haaren.
Pearl übergab ihm ihren Gestellungsbefehl, und er warf einen kurzen Blick darauf.
»Zum ersten Mal im Auslandseinsatz?«
Sie nickte.
»Mach dich darauf gefasst, dass das nicht so eine unbeschwerte Vergnügungsreise wird, wie du es bisher bei Merv Sent und seinen verdammten Senders erlebt hast.«
Alle kicherten, doch sie spürte sehr wohl die Anspannung hinter der allgemeinen Heiterkeit.
»In einem Monat kann es so weit sein, dass ihr im Granatenhagel von der Bühne springen und in Deckung gehen müsst. Kann sein, dass ihr im Schützengraben übernachten müsst. Da gibt’s kein Klo mehr, sondern da sitzt ihr dann in eurer Scheiße oder in der von dem Mann nebenan.« Das nervöse Gelächter wurde lauter. Pearl rückte das schwere Gepäck auf den Schultern zurecht. Sie fragte sich, wann der richtige Moment zum Salutieren gekommen war.
»Ich werde euch schon Beine machen, darauf könnt ihr Gift nehmen«, fügte er noch hinzu. »Ich werde dafür sorgen, dass keiner von euch Kerlen eine falsche Note spielt oder einen Takt auslässt.«
Während der nächsten halben Stunde halfen Pearl und Charlie den anderen dabei, weitere Ausrüstungsgegenstände und Versorgungsmaterial auf den Lastwagen zu hieven. Dann kletterten alle mit ihren Instrumenten auf die Ladefläche. Anschließend wurden sie durch die menschenleeren Straßen der Stadt zu einem Kai in der Woolloomooloo-Bucht gefahren. Das erste Licht der Dämmerung erhellte die Umrisse am Hafen. Ein riesiges graues Schiff lag dort vor Anker. Die Schiffsmaschinen brummten bereits, und eine schmale Rauchfahne kräuselte sich aus einem der Schornsteine. Am anderen Ende des Kais schleppten Männer schwere Kisten über eine breite Gangway.
Pearl hielt es für das Beste, sich eng an Charlie zu halten, der sich offenbar schon recht gut auskannte. Sie ahmte praktisch jede seiner Bewegungen nach, angefangen von der Art, wie er sein Marschgepäck auf
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