Bis auf die Haut
er über die Dame wusste. Sie war in einem Kloster erzogen und als Sechzehnjährige mit einem reichen Bankier verheiratet worden. Die Ehe wurde nie vollzogen, einem Gerücht nach war ihr Gatte in Wirklichkeit ihr Vater. Während Cole mit einem Wattestäbchen auf ihrer blassen Wange herumtupfte, berichtete er, dass sie als Revanche für die Ödnis in ihrer Ehe Dutzenden von Männern mit ihren Reizen den Kopf verdrehte, aber ihr ganzes Leben lang Jungfrau blieb.
Jeder der armen Kerle, die sich in sie verliebten, verfluchte sie, erzählte Cole, als er zurücktrat und das hell ausgeleuchtete Stück seiner Arbeit begutachtete. Sie besaß diese unglaubliche innere Ruhe. Ihrer Ausstrahlung konnte keiner widerstehen.
Ich kann diese Ruhe sehen, sagtest du. In ihrem Lächeln.
Du hast deinen Mann beobachtet, wie er sich über die rissige Farbfläche der alten Leinwand beugte. Mit der Behutsamkeit eines Bildhauers, der seinen Steinblock bearbeitet, trug er den Ruß und Schmutz ab, bis das Gesicht und dann der Körper der Madame Recamier in zartem Schmelz vor euch leuchteten. Du warst hypnotisiert von den Fingern, die sich mit der Aufmerksamkeit eines Liebhabers abmühten, um an einem goldenen Nachmittag die Lippen, nichts als die Lippen zum Leben zu erwecken, ein andermal die Rundung ihrer Brust.
Du hast es immer mit einer großen Unbekannten zu tun, sagte er. Das Säubern ist der riskanteste Teil beim Restaurieren. Unter den Schmutzschichten kann etwas Großartiges zum Vorschein kommen, aber auch Schrott, den du am liebsten wegwerfen würdest. Das weißt du nie im Voraus.
Damals hättest du ihm ewig zuschauen und zuhören können: Ein in seine Arbeit vertiefter Mann besaß für dich etwas äußerst Verführerisches. Damals wusstest du auch, dass deine Liebe erwidert wurde, und diese gegenseitige Liebe wölbte sich wie ein Baldachin über euer Leben.
Jetzt siehst du deinen Mann ganz anders. Du siehst einen Mann, der in Kunst und Pornographie abtaucht wie in ein Versteck, der sich von einer inneren Welt nährt, von der du nichts weißt. Seine Arbeit ist ein Bereich, an dem du niemals wirklich Anteil haben kannst, er zieht sich dorthin ebenso zurück wie in sein von einem tiefen Graben abgeschirmtes geheimes Leben.
Warum hast du ihn geheiratet?
Weil er ja gesagt hat. Und weil du jede Erwartung, ein Mann könnte dich so sehr begehren, dass er dich heiraten will, schon aufgegeben hattest. Und weil er dir von Anfang an so ein guter Freund war; nicht nur ein Lover, mit dem du außer Sex nichts gemeinsam hattest. Und weil du diesen tiefen Drang in dir spürst, während die Dreißiger davongaloppieren, ein rasendes Bedürfnis.
Vergönn mir ein Kindelein oder ich will sterben
,
hatte die Verfasserin deines Buches geschrieben.
Ja.
Cole hat ein Lieblingsfoto von dir, das, wie er meint, dein geheimes Selbst enthüllt. Es wurde für einen Zeitschriftenartikel aufgenommen, der über intelligente Newcomerinnen, die man im Blick behalten sollte, und ihre Mentoren berichtete. Du warst von einer Nachrichtensprecherin ausgewählt, worden, einer ehemaligen Studentin. Eine junge Frau, die sich ihren Dialekt abtrainiert hatte, jenen hungrigen Ausdruck vorzutäuschen verstand und in einem kometenhaften Aufstieg den Sprung von einer Bristoler Tageszeitung in die TV -Hauptsendezeit geschafft hatte. Mit von der Partie waren auch eine berühmte Geigerin, eine Genetikerin, eine Regisseurin, eine Architektin und eine Schriftstellerin.
Du wolltest eigentlich nicht mitmachen, hast aber natürlich nicht nein gesagt: Es war gute Werbung für die Fakultät. Im Grunde mochtest du die junge Frau nie besonders, warst eifersüchtig auf sie und hast dich ein wenig vor ihrem übersteigerten Ehrgeiz gefürchtet. Sie verbarg ihn hinter gespielter Freundlichkeit, doch du durchschautest sie.
Der Fotograf war ein Kolumbianer. Ihr brachtet ihn zur Verzweiflung, er wollte, dass sich die Gruppe entspannte. Er forderte euch auf, an das Sinnlichste zu denken, was ihr euch vorstellen konntet, und es laut herauszuschreien; daraufhin kam von euch unbehagliches Gelächter und dann nur noch Schweigen.
Haut auf Haut, sagte deine Exstudentin plötzlich. Gänseleberpastete, eine andere. Die weichen Speckröllchen an den Schenkeln eines Babys. Der Duft von frisch gemähtem Gras. Um Mitternacht nackt im Meer baden. Das Sanktus von Fauré, das Lachen einer Freundin.
Bis nur noch du übrig warst. Ein zarter Kuss auf den Nacken meines Mannes, während er in seine Arbeit
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