Bis auf die Haut
ist seine Umgänglichkeit nur eine sanfte Strategie des Selbstschutzes, doch du hast den Verdacht, dass dein Gabriel einfach nicht sehr geschickt darin ist, sich im Leben nach oben zu boxen. Ist das wirklich ein solcher Fehler? Heute ist jeder so gut im Raffen, vor allem Theo; ihr ganzes Leben dreht sich darum, den lukrativsten Geschäftchen, Vergünstigungen, Zuwendungen, Schnäppchen nachzujagen, keine Rarität, kein Objekt des Begehrens entgeht ihrem Klammergriff. Das alles geht an Gabriel vorbei. Sein Charakter hat etwas Sonniges, was in dir den Instinkt weckt, ihn zu beschützen und das Kostbare in ihm zu bewahren.
Wenn er zuhört, neigt er den Kopf zur Seite. Zu vielen deiner Sätze bemerkt er:
Interessant!
, was du sagst, weiß er zu schätzen. Er ist ganz versessen darauf, dich kennen zu lernen. Auch du warst gegenüber Fremden einmal so, bei Partys oder Hochzeiten oder Blind Dates, mit der Leidenschaft eines Sammlers hast du die anderen mit Fragen bombardiert, dich selbst aber versteckt. Bis deine Neugier in der Watte der Ehe, der Selbstzufriedenheit und der Beziehung mit Cole versank und dein Interesse an anderen Menschen stark abnahm. Gabriel will wissen, was du denkst, gibt dir im Gespräch Raum: Wie angenehm bei einem Mann! Du springst darauf an wie ein vernachlässigtes Kind in der letzten Bank des Klassenzimmers, das einen neuen Lehrer bekommt und unter seiner Aufmerksamkeit aufblüht. Und dabei ein ganz neuer Mensch wird.
Gabriel gibt dir das Gefühl, schön zu sein. Begehrenswert. Selbstsicher. Einzigartig. Cole sieht dich niemals so, er sagt dir gern, wie du bist, wem du gleichst, steckt dich in Schubladen.
Als der Abend zu Ende ist, wünschst du Gabriel eine gute Nacht – kein Kuss, nur die flüchtige Berührung warmer Wangen –, und auf dem Heimweg treibt dich ein vibrierendes Hochgefühl voran, als könntest du in die Luft springen und den Himmel berühren. Du hast seine Nummer und er hat deine und in der U-Bahn drückst du wieder deine Lippen auf seinen Zettel.
Diesmal wirst du ihn nicht verlieren.
50. Lektion Es grenzet an Mord, das Bett mit klammen Laken zu beziehen
Licht unter der Wohnungstür. Meist bist du als Erste zu Hause; du setzt ein unbeteiligtes Gesicht auf. Cole fragt, wo du gewesen bist, und du antwortest, in der Bibliothek, die ist mittwochs länger geöffnet, weißt du nicht mehr? Gut, sagt er, ich bin froh, dass du davon profitierst. Er blickt von seinem
Evening Standard
hoch, dessen Großstadtklatsch er genauso liebt wie du. He, du hast ganz rote Wangen, wie ein Clown.
Das ist die Kälte, merkst du nicht, wie es kälter wird?
Wie glatt dir die Lüge über die Lippen kommt, erstaunlich, wie mühelos und schnell. Denn das Vertrauen deines Mannes zu dir ist wie eine an einem Betonklotz festgekettete Boje, du bist die gute Ehefrau, das weiß doch jeder. Deine Hände fliegen zu deinen Wangen hoch, um ihre Hitze zu verdecken, und du siehst Cole an und denkst, wie leicht du alles tun könntest, was du wolltest, und plötzlich bricht dir Coles Großzügigkeit und Vertrauensseligkeit das Herz. Vielleicht hatte er doch nie eine Affäre mit Theo? Schwer vorstellbar, wenn er so in Hemdsärmeln mit seiner Zeitung bei Oliven und Bier dasitzt. Zum ersten Mal spielst du mit dem Gedanken, dass er womöglich immer die Wahrheit gesagt hat. Er hat sich nie richtig gegen deinen Verdacht verteidigt, aber vielleicht war er dazu nicht in der Lage. Weil du von vornherein von seiner Schuld überzeugt warst. Alles verblasst mit der Zeit und plötzlich beginnst du an dir selbst zu zweifeln: an dem, was du damals gehört hast, woraus du so rasche Schlüsse zogst. Vielleicht hast du dich doch geirrt?
In dieser Nacht legst du deine Hand auf Coles Brust, als er neben dir schläft, und wölbst sie über seinem klopfenden Herzen wie ein Glas über einen Blutegel. Du kannst nicht schlafen, schläfst einfach nicht ein. Wenn du in deiner Phantasie Ehebruch begehst, ist das dann der Anfang der Abkehr von deinem Mann und deiner Ehe und deinem bisherigen Leben? Oder schweißt euch das noch fester zusammen? Falls das so wäre, wie soll eure Ehe dann wieder Wärme und Tiefe bekommen?
Brauchst du eine Rechtfertigung?
Du lügst nie. Außer, wenn du einen Orgasmus vortäuscht oder deinen Freundinnen sagst, du fändest ihre neue Frisur toll, so was zählt doch nicht, das tust du, um den anderen zu schützen und zu beruhigen. Du stiehlst nicht. Du hüpfst nicht durch die Betten. Aber du denkst ständig daran.
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