Bis auf die Haut
den Bedienungen und hilft Müttern, ihren Kinderwagen die Treppe hinunterzutragen. Alles, was auch du tun solltest, aber nicht tust, was Cole nicht einmal in Erwägung ziehen würde. Gabriel ist so mitfühlend und entspannt, macht alles ohne Hast. Heutzutage sind die Menschen nicht mehr so. Er wirkt fast naiv. Wie kann er in dieser Welt überhaupt überleben? Er ist ein Mensch ohne Häme, Cole dagegen besteht aus fast nichts anderem. Es ist, als hätte die Härte, die das Londoner Leben mit sich bringt, Gabriel noch nicht erfasst.
Manchmal trinkt ihr nachmittags nicht ohne Schuldgefühle Tee in deiner Wohnung und zum Schluss trägt Gabriel unaufgefordert den Abfall hinaus, eine kleine Aufmerksamkeit, die für dich sehr zählt, denn Cole musst du immer etliche Male bitten, bis er sich dazu bequemt. Es war ein seltsames Gefühl, als du Gabriel das erste Mal in deinen Räumen hattest, du musstest ihn ständig ansehen, den schlanken, exotisch dunklen Mann im Anzug, unter dessen Ärmeln die Hemdmanschetten vorstanden, die abgewetzten Schuhe mit dem Stück Pappe über dem Loch in der Sohle; Charlie Chaplin, erklärte er, hätte das auch gemacht und den Schaden damit behoben. Er schlenderte durchs Wohnzimmer, die Hände zufrieden hinter dem Rücken verschränkt, guckte sich die gerahmten Hochzeitsfotos und CD s und Bücher an und sammelte Indizien, wie du lebst. Und Cole. Er stellte Fragen über ihn, als wäre er endlos neugierig, wie das so in einer Ehe ist.
Kochst du abends für ihn?
Nicht oft.
Trägst du eine Küchenschürze?
Nein.
Er genießt das Fragespiel, er lächelt so breit, dass seine Augen in Schlitzen verschwinden: Du liebst es, wenn er so lächelt.
Bügelst du seine Hemden?
Nein.
Gibst du ihm morgens einen Kuss auf die Wange, wenn er zur Arbeit geht?
Nein. Nein. Nein. Du schüttelst den Kopf und lachst.
Er hält dir Türen auf, kauft dir den U-Bahn-Fahrschein, zahlt im Café für dich mit, etwas anderes käme für ihn nicht in Frage. So viele kleine Freundlichkeiten Tag für Tag, stets mit einem winzigen erotischen Beigeschmack, und du erwiderst sie jetzt stets, hältst seine Hand, ziehst ihn hinter dir her, umarmst ihn vor Freude, denn das kleine Mädchen in dir kommt wieder angehüpft. Und manchmal trägst du keinen Slip unter deinem knielangen Rock, ein scharfes Gefühl, vielleicht keine große Sache, wohl aber für dich, noch vor einem Jahr undenkbar. Ein ganz privater Verstoß gegen die guten Sitten, aber deshalb nicht weniger erregend.
Du hast keine Lust mehr auf dein Buchprojekt. Du hast noch weniger Lust, deine alten Freundinnen aus der Fakultät anzurufen, trotz aller deiner Versprechungen beim Abschied. Nur noch die Zeit mit Gabriel zählt. Du genießt es, dich in die weiche Seide der Ablenkung sinken zu lassen, mit Möglichkeiten zu flirten und deinem Spieltrieb nachzugeben. Wenn du dich zu einem Bibliotheksbesuch aufraffst, überlässt du dich Abschweifungen und Spaziergängen in Büchern, die du aus durchgebogenen Regalen herausziehst, liest manchmal ganze Kapitel, an goldenen Tagen sogar ein ganzes Buch mit Märchen oder Novellen, die du schon immer lesen wolltest. Dich locken die dunkelsten Winkel der Bibliothek, alte Kochbücher und seltsame Unterweisungen für die viktorianische Hausfrau, die ihrem Gatten in die Kolonien folgt. Was dich außerdem lockt, ist Gabriel an seinem Schreibtisch; du willst ihn von seiner eigenen, sich träge dahinschleppenden Arbeit ablenken.
Ihr lebt in zwei verschiedenen Welten, von der gemeinsam verbrachten Zeit einmal abgesehen. Es gibt riesige Lücken in seinem Leben, über die du nichts weißt, er weicht deinen Fragen immer aus und schwenkt den Scheinwerfer zurück auf dich. Dabei bedient er sich deiner Tricks, die du nur zu gut kennst. Er ist unendlich neugierig, will aber deine Neugier nicht befriedigen.
Was ist denn so faszinierend am Stierkampf, fragst du ihn nach einem Film von Almodóvar, nimmst seine Hände in deine und forschst wieder einmal nach den Geheimnissen seines Lebens.
Komm mit mir nach Spanien und schau dir eine Corrida an.
Das würde ich ja so gern, aber wie soll das gehen?
Hilfloses Achselzucken. Ihr beide wagt nie davon zu sprechen, was euch aneinander fesselt, was an euch zerrt wie die Strömung eines Flusses, entschlossen, unaufhaltsam, rasch. Und wenn er sich zu dir beugt, erschauerst du vor der Nähe seiner Haut, seiner Energie, seiner Andersartigkeit. Er isst andere Gerichte, ist unter einer anderen Sonne aufgewachsen,
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