Bis auf die Haut

mit Theo wirklich war, denn du hast begriffen, dass es für eure Ehe zerstörerischer ist, wenn ihr in die Geheimkammern eurer Psyche eindringt, als wenn ihr über gewisse Dinge einfach hinweggeht. Also lässt du es dabei bewenden. Um selbst wieder zu leben. Um, falls möglich, wieder ein ruhigeres Fahrwasser anzusteuern.
    Januar. Cole hat einen Auftrag in Athen von einem alten Bekannten im Reedereigeschäft, einem Milliardär, der Akte der Präraffaeliten sammelt. Doch diesmal hat er etwas anderes erworben, eine wunderbare mittelalterliche Venus, ein Porträt von der Hüfte aufwärts; dieses Bild will er nicht aus den Händen geben. Cole hat dir die Fotos gezeigt, er hat ein Gutachten erstellt, die Farbe wirft Blasen und blättert ab. Einige Stellen sind vollkommen kahl, Cole wird zu Pinsel und Palette greifen und nahtlose Übergänge schaffen müssen. Er kann es kaum erwarten, Hand an die Schöne zu legen. Ihre Haut ist blass und kalt, wie aus Marmor gemeißelt. Ihre Brustwarzen sind winzige Knöpfe, wie fleischfarbene Smarties, natürlich ohne Vorhof. Um ihren langen Nacken windet sich eine Schlange, deren Schuppen so weich und schmeichelnd wirken wie schwarzer Samt.
    Cole ist drei Wochen lang weg und in dieser Zeit blüht dein wahres Ich auf. Du wünschst dir, du hättest deinem Mann in all den Jahren, die ihr euch schon kennt, mehr davon gezeigt. Jetzt darf es nur heraus, wenn er fort ist.
    Und so ist es, dein wahres Ich:
    Die Musik laut aufgedreht,
deine
Musik, alle Popsongs aus deiner Jugend, Wuthering Heights und Blondie und der Soundtrack von Grease und Nina Simone mit ihrer heisersten Stimme, alles Musik, die er hasst, du hast sie auf Kassetten aufgenommen und unterm Bett versteckt wie eine Diätberaterin ihre geheime Schachtel Pralinen. Du tanzt und singst, ohne die Töne zu treffen, viel zu laut und trunken vom Alleinsein. Du stellst die Möbel um, schleifst sie quer durchs Zimmer, dass der Boden erzittert, wie perfekt könntest du diese Wohnung einrichten, wenn sie dir allein gehörte – raus mit diesem überdimensionierten Fernseher, raus mit den Whiskyflaschen und billigen Krimis! Abends isst du nichts als Schokokekse, paketweise, oder auch nur eine Scheibe Toast mit einem Glas Rotwein dazu, die schmutzigen Teller türmen sich und die Kerzen brennen ganz herunter, und spätabends streckst du dich auf dem Sofa aus und fühlst dich jung und lebendig und satt und befriedigt. Denn wenn du allein bist, findest du zum Glanz, zur Klarheit zurück, entdeckst den Kern deines Wesens.
    Wenn Cole nicht bei dir ist, erfüllt dich ein berauschendes Freiheitsgefühl, trotzdem möchtest du nicht ohne ihn leben. Du denkst an die zwei Arten von Einsamkeit, die du in letzter Zeit kennen gelernt hast: dieses wunderbare, funkelnde, Seelen erfrischende Alleinsein und die verzweifelte Einsamkeit, die dir den Lebensatem nimmt.

56. Lektion Im Schlafzimmer dulde man Unreines keinen Augenblick länger als nöthig
    Ein Brief, der schwer auf die Fußmatte fällt. Dickes, sahniges Papier mit Wasserzeichen, italienisches Papier, die Ränder daunenweich. Zum Küssen sinnlich. Die Worte mit Schreibmaschine getippt, mit einem so tief eingestanzten Relief, als wäre es Brailleschrift.
    Ich will dir im Dunkeln deine Kleider ausziehen, dich aus ihnen herausschälen. Ich will erspüren, wer du bist, Zentimeter für Zentimeter.
    Deine Fingerspitzen jagen über die Wörter, flink wie eine Eidechse. Du zitterst, deckst den Brief mit der Hand zu, musst dich hinsetzen, so sonderbar ist er.
    Du hilfst mir leben.
    Kein Name, keine Absenderadresse. Dein Herz stockt, verführt von den Worten. Du stehst am Wohnzimmerfenster und presst mit einer Hand den Brief an die Brust, die andere legst du mit Spinnenfingern an die kalte Fensterscheibe und das Glas beschlägt von deinem Atem und deine Wangen brennen heiß. Es ist, als würdest du zögernd einen seltsamen, unbekannten Weg betreten und die Bäume schlagen ihre Äste über dir zusammen und der Himmel verschwindet und das Licht auch, du hast dich verirrt, und mittendrin auf einer Lichtung wirst du zu Boden gezerrt und ertränkt werden in einem Bett aus Seide.
    Komm. Fang neu an.
    Das Telefon. Cole. Er ist euphorisch. Du weißt schon, was er gleich sagen wird: Er wird sich ein paar Tage verspäten, arbeitet immer noch wie ein Wilder an diesem Bild und kann sich nicht davon losreißen. Er hatte von jeher den Drang, dich bis ins kleinste Detail über seine Arbeit zu informieren, du bist eine gute