Bis auf die Haut
Und Gabriel beugt sich über den Tisch zu dir vor und liebkost dir den Nacken, findet den verletzlichen Punkt und flüstert dir zu, dass genau hier der Dolch hineingleitet, spür mal, genau da, es muss ein sauberer Schnitt sein, der das Rückenmark durchtrennt, er spricht von der Großartigkeit des perfekten Todesstoßes, und bei seinen Worten überläuft dich eine Gänsehaut von oben bis unten. Du lehnst dich zurück. Reibst dir den Nacken. Du bebst vor Verlangen nach ihm, presst die Schenkel zusammen. Dein Gesicht hat mit sechsunddreißig immer noch etwas Unschuldiges, du könntest für sechsundzwanzig durchgehen, eine, der man noch viel beibringen muss, in deinem knappen Strickjäckchen und den Ballerinas und dem knielangen Rock. Die Muskeln in deinen Schenkeln spannen sich jetzt oft an, beim Sonntagsbrunch mit Coles Kunden, beim Essen mit Freunden, beim Sherry mit den Schwiegereltern, mittendrin überfällt dich dieses schmerzhafte Verlangen, dass er deine Fotze berührt, und du vergisst alles um dich herum.
Fotze.
Dieses Wort hast du immer gehasst, doch plötzlich erregt es dich, du lächelst insgeheim, wenn du es dir innerlich vorsagst, ein
schmutziges
Lächeln.
Und doch kannst du dir nicht vorstellen, dass es jemals dazu kommen wird, denn das eine Mal, als du ihn geküsst hast, als du beim Abschied nach einem traumhaften Nachmittag zu weit gegangen bist und dein Küsschen von seiner Wange abirrte, hat er den Kopf zurückgerissen wie ein Mustang beim Zureiten. Und immer, wenn eure Haut aneinander streift, zuckt er zurück, du spürst sie genau, diese kleine Fluchtbewegung.
55. Lektion Gehet das Jahr zur Neige, so ist darauf zu achten,
daß der Blumenkasten sauber und ordentlich gerichtet ist
Die Dunkelheit frisst sich jetzt gierig in die Nachmittage vor. Das Jahr galoppiert auf Weihnachten zu. Cole ist viel fort, pflegt seine beruflichen Kontakte bei diversen Weihnachtsfeiern: Cocktailpartys in den cremefarbenen Salons des Nobelviertels Belgravia, in den Studios von St. James und in privaten Clubs in Soho. Zum ersten Mal, seit du ihn kennst, hat er dich nicht um deine Begleitung gebeten. Er hat gemerkt, dass er dich nicht mehr ganz so leicht dazu bringt, dich nach seinen Wünschen zu richten.
Gabriel ist in Spanien bei seiner großen Familie, er weiß nicht genau, wann er zurückkommt. Danach fährt er vielleicht nach Prag, anschließend wieder einmal nach Griechenland, einen Freund besuchen. Du fühlst dich nicht vernachlässigt, weil du sicher weißt, dass er wiederkommt und ihr den Faden dort wieder aufnehmen werdet, wo ihr ihn fallen gelassen habt. Gabriels Leben umgibt ein glamourhafter Charme, weil er nicht für den Alltag herhalten muss. Zu diesem Charme trägt auch bei, dass Gabriel sich mit so wenig Besitz zufrieden gibt, dass er so wenig Ehrgeiz für seinen Job entwickelt und dass er immer irgendwo auf Achse ist: Das alles ist so frech, respektlos, gewagt und leichtlebig.
Du redest dir ein, dass an einer Tasse Tee, einem Ausstellungsbesuch oder einem klopfenden Herzen ja nichts Schlimmes sei. Du sagst dir, dein Mann verdiene solche kleinen Treuebrüche, weil du dadurch bei ihm bleibst, sie halten eure Ehe zusammen, was ihr ja beide wollt.
Weiter wird die Sache nicht gehen. Du möchtest dir keine Schuldgefühle zuziehen wie eine Krankheit.
Doch an diesen langen Dezemberabenden denkst du darüber nach, warum manche Menschen zwanghaft ein Chaos in ihrem Leben provozieren. Um Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu bekommen? Um die Liebe zu stärken? Tust du das alles für Cole, damit er dich wieder bemerkt, damit er wieder so aufmerksam wird wie früher einmal, dein bester Freund?
Weihnachten wird ertragen und schnell wieder weggepackt.
Ich hasse das, was da zwischen uns ist, sagt Cole plötzlich an einem sehr stillen Silvesterabend.
Ich auch.
Mehr sagt ihr nicht, mehr Worte braucht es auch nicht, zwischen euch herrscht eine unausgesprochene Einigkeit, dass ihr gern wieder so leben würdet wie früher. Diese Nacht treibt den Heilungsprozess seltsam voran, obwohl immer noch nichts geklärt ist. Ihr seid beide um zehn im Bett. Cole hüllt dich in seine Wärme ein und du schüttelst ihn nicht ab. Du kannst dir nicht erklären, warum deine Ehe immer noch funktioniert, aber sie tut es, gut genug. Gut genug, dass du nicht anderswo ein neues Leben beginnen, dich wieder in die Tretmühle des Unijobs begeben, den Babyplan neu überdenken willst. Du löcherst Cole nicht mehr bei jeder Gelegenheit, was denn nun
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