Bis auf die Haut
könntest, hättest dir nie träumen lassen, dass du dich in einen so elenden Wurm verwandeln könntest. In der totenstillen Wohnung ziehen sich die Tage zäh in die Länge, deine Nägel sind bis aufs Fleisch abgekaut, du beißt dir die Innenseite deiner Lippen auf und saugst Blut heraus. Immer wieder läuft in deinem Kopf der Film ab, mit welcher Bestürzung er reagiert hat, und du schreist laut auf vor innerer Pein, es ist wie damals vor Jahren, als dir der Fakultätsleiter erzählte, seine Frau hätte gerade ein Baby bekommen, worauf dir entfuhr, wie traurig, Gott weiß, warum, wie traurig, und deine wirren, schwachsinnigen Worte verfolgen dich seither.
Warum ruft er denn nicht an, damit du wieder zur Ruhe kommen kannst? Wollte er denn nie mit dir schlafen? War ihm die Sache dermaßen peinlich? Hat er sich etwa in dich verliebt und geglaubt, es wäre aussichtslos? Deine elisabethanische Autorin ist dir auch keine Hilfe, sie sät nur noch mehr Zweifel, noch mehr Fragen:
Denket an den Mann, der ein Weib so niederträchtig und ehrlos begehrte, daß er keine Ruhe gab, bis er es schändete; er zwang sie bey ihm zu liegen, und nachher, um das Mass seiner Verwerflichkeit voll zu machen, haßte er sie mehr als er sie zuvor geliebt.
Ist es denn leichter, einfach von der Bildfläche zu verschwinden? Fragen über Fragen, und der Wind weht durch alle deine Nächte, rüttelt an den Fensterscheiben und heult um Einlass. Du wirfst dich im Bett herum, als wolltest du den Schlaf aus dir herauskotzen.
65. Lektion Gifte würken auf eine dem Leben abträgliche Weise
Und dann ein neuer Brief, schöner, eindringlicher als alle zuvor.
… du hilfst mir leben. Du dringst unter die Haut meiner Tage, es ist wunderbar, quälend, mystisch, alles zugleich.
Stundenlang reibst du an der Falte zwischen deinen Brauen. Du weißt nicht, was das alles soll, weißt überhaupt nichts mehr. Warum ruft er nicht einfach an, warum ist er so verschlossen, immer auf dem Rückzug. Die Ungewissheit versengt dich, du kannst das nicht allein durchstehen, wirst vor dem Chaos in deiner Welt davonlaufen und in deiner Einsamkeit den Verstand verlieren, wenn du das allein durchstehen musst.
Aber es gibt niemanden, mit dem du reden, den du um Rat fragen kannst. Jetzt bräuchtest du Theos ehrliche Meinung, du vermisst das kleine Plopp, wenn sie die Zigarette aus dem Mund nimmt und zu reden anfängt, also, du hast jetzt
Folgendes
zu tun, Mädchen. Wie oft hat sie das früher zu dir gesagt? In den Anfangszeiten deiner Beziehung mit Cole meinte sie einmal, er wäre nicht gut genug für dich, denk an den Song von Madonna, gib dich nicht mit dem Zweitbesten zufrieden, Baby. Doch dann schwenkte sie um, als sie im Lauf der Jahre sah, wie nett er zu dir war; ihre letzten Zweifel räumtest du aus, als du ihr erzähltest, es sei seine große Fähigkeit zur Zärtlichkeit gewesen, womit er dich erobert hätte. Bei diesen Worten wurde sie ganz still: Darauf gab es nichts mehr zu erwidern. Du fragst dich, wo sie jetzt ist und was sie treibt, bist neugierig wie eine ehemalige Geliebte, außerdem verstört, haltlos und voller Hass auf dich selbst.
Du kriechst auf den Knien in der Küche herum und stopfst dir tafelweise Schokolade in den Mund, Tafeln von Familiengröße, dann Kekse, ganze zuckrige Packungen davon, und Eiscreme aus der Schachtel und Erdnussbutter aus dem Glas, gräbst Riesenhaufen davon mit den Fingern heraus und würgst sie hinunter, die Knusperschmiere, nur weh, richtig weh soll es tun, einen Moment lang vergisst du den Schlankheitszwang. Du kannst weder denken noch lesen, noch einkaufen, noch schreiben, noch dich auf irgendetwas konzentrieren, denn Gabriel drängt sich in alles, was du tust und denkst. Du lässt deine ganze professionelle Tüchtigkeit und Disziplin sausen und schläfst bis spät in den Tag hinein, liegst dann auf dem Sofa herum und starrst ins Leere, ungelesene Klatschzeitschriften auf dem Schoß. Du kannst dich nicht dazu aufraffen, eine deiner Freundinnen anzurufen, mit ihnen Kaffee trinken oder essen zu gehen, du hast keine Erklärungen parat. Du willst nicht, dass sie ein Urteil über deine kraftlos herunterhängenden Haare oder über Pickel fällen, willst nicht, dass sie sich mit dir verbünden, dich bemitleiden oder Wirbel um die Sache machen. Du wählst Gabriels Nummer und legst nach zweimal Klingeln auf, du wählst Theos Nummer und tust dasselbe. Was ist aus dir geworden? Du kannst dich kaum an die Frau erinnern, die du einmal
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