Bis auf die Haut

nichts über deine eigenen Tage und Nächte.
    Wie ist es dazu gekommen, fragst du leise.
    Er lehnt sich zurück und lacht. Also, sagt er langsam, es fällt ihm schwer, einen Anfang zu finden, er will etwas sagen, überlegt es sich anders und beginnt dann. Da gab es ein Mädchen, als er fünfzehn war. Sie hieß Clare. Sie sollten zusammen in einem Musical auftreten, einer Gemeinschaftsproduktion seiner Jungenschule und der Klosterschule am Ort. Er war gerade von Spanien hergezogen.
    Was war das für ein Musical?
    Das willst du nicht wirklich wissen. Es hieß:
Jung und unbekümmert.
    Ihr lacht beide.
    Sie war Amerikanerin. Hatte zwar spanische Eltern, stammte aber aus Kalifornien. Und war ganz anders als alle anderen. Wunderbar. Strahlte eine solche Wärme aus. Es war, ich weiß nicht, als hätte sie die Sonne in ihrer Haut gespeichert. Ich war … hin und weg.
    Du nickst lächelnd, errätst die Geschichte fast schon: Sie haben sich ineinander verliebt, mit einer wahnsinnigen, süßen, verzehrenden Heftigkeit. Ein Lehrer entdeckte sie während einer Probe in einer Abstellkammer. Sie waren nackt, aber sonst noch nicht weit gekommen; du siehst die beiden vor dir: ihre Hände, ihre Gesichter, schüchtern, zitternd, verzückt, erschrocken. Sie wurden voneinander getrennt. Clares Eltern waren sehr streng, ließen sie bei dem Musical nicht mehr mitspielen, sie durfte es nicht einmal anschauen. Gabriel wurde es verboten, sie anzurufen; er schrieb ihr einen Brief, dass er auf sie warten und keine andere anschauen würde, erfuhr aber nie, ob sie ihn bekommen hatte. Sie wechselte die Schule. Er konnte sie nicht ausfindig machen, sie war für ihn verloren.
    Meine Familie meint, ich hätte mich auf sie fixiert, sagt er. Das stimmt wahrscheinlich, ich weiß nicht. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an sie dachte, an meinen Verlust. Ist das Fixierung?
    Wahrscheinlich schon, lächelst du. Du drehst deine Hände um, so dass eure Handflächen aufeinander liegen.
    Meine Mutter sagt immer, ich hätte eine suchtanfällige Persönlichkeit, grinst er verschämt. Jedenfalls war ich entschlossen, Schauspieler zu werden – vielleicht auch deshalb, um einen Zugang zu Clare zu finden, keine Ahnung; ich verbrachte so viel Zeit mit Gedankenspielen und Phantasien, alles fand nur in meinem Kopf statt. Eines Tages, als ich zwanzig war, ging ich die Charing Cross Road entlang und sie stand einfach da, vor mir. Er ist nervös, hüstelt zwischendurch leicht, räuspert sich, du erinnerst dich an andere Momente, als er ins Schlingern kam: als er einmal eine Rechnung beanstanden musste oder als er einmal in der U-Bahn einschreiten musste weil ein Verhaltensgestörter einen Streit anfing. Ich hatte so lange darauf gewartet, fährt er fort. Wir gingen in meine Wohnung. Deine Hand umfasst die seine ein wenig fester. Gabriel bleibt eine Weile stumm, befeuchtet sich mit der Zunge die Lippen, schaut dir in die Augen: Ich habe ihr gesagt, sie müsse behutsam mit mir umgehen, ich wüsste nicht, was ich tun müsste. Ich sei nie mit einer anderen Frau zusammen gewesen. Innerlich hätte ich die Beziehung zu ihr nie abgebrochen. Ich hätte so lange auf sie gewartet.
    Du legst deine Hand auf seine Wange und hältst den Atem an.
    Sie hat gelacht. Einfach … gelacht.
    Nach all diesen Jahren immer noch ein solcher Zorn in ihm.
    Sie hatte sich so verändert, war so hart geworden, so … zynisch und blasiert. Sie hatte alle Sanftheit verloren. Und hatte sich die Haare gefärbt, zu viel Lippenstift aufgetragen und sich dieses schreckliche, dicke Make-up ins Gesicht gekleistert. Nichts davon hätte sie nötig gehabt. Ich weiß nicht, was über mich kam. Ich packte sie an den Schultern und schüttelte sie, als wollte ich dieses Lachen aus ihr herausschütteln. Ich konnte gar nicht mehr aufhören.
    Du hältst seine Hand zwischen deinen Händen umklammert wie einen glatten Stein, den du am Strand gefunden hast.
    Und dann, ich weiß auch nicht, habe ich meine Mitte verloren, es war, als nage irgendein Virus der Unsicherheit an mir. Alle kannten mich, Mädchen hatten Poster von mir an der Wand hängen, du lieber Himmel. Und während er erzählt, rutscht seine Hand aus deiner und er fingert an einer Papierserviette herum und beginnt kleine Löcher hineinzureißen. Ich konnte doch nicht einfach sagen, dass ich noch nie mit einer Frau geschlafen hatte, das lähmte mich total. Ich nahm mir vor, bis zweiundzwanzig werde ich mit einer Frau geschlafen haben, dann verschob ich es auf