Bis auf die Haut
warst, die vernünftige Universitätsdozentin, die jeden Morgen um 6.56 Uhr aus dem Bett sprang.
Ist das Liebe, Leidenschaft, Obsession? Du weißt es nicht. Dir fällt ein ausgefallenes, schönes Wort ein, das du einmal gelesen hast,
Limerenz
, ein Begriff aus der Psychologie, der eine obsessive Form der Liebe bezeichnet, einen Zustand wie unter Drogen. Verlangen trabt wie ein Wolf durch den kleinen Käfig deiner Welt, hin und her, hin und her, kommt niemals zur Ruhe. Du bist in einer inneren Verfassung, die Racine als
tout entier à sa proie attaché
beschrieben hat, ganz und gar auf seine Beute fixiert, und deine Finger sind nun oft zwischen deinen Schenkeln, streichelnd, spielend, äußerst rege, während Cole schläft. Du erschrickst über die neuen Triebe in dir, die dich mit Füßen treten und mit Krallen kratzen, damit du sie herauslässt.
Mit den Tagen findest du Trost in den Seiten deines kleinen Buchs. Die starke, einzigartige Stimme der Autorin gerät nie ins Wanken, der Text und seine feinen rotschwarzen Randverzierungen strahlen Strenge und Klarheit aus. Ob sie wohl jemals eines Mannes wegen auf dem Boden herumgekrochen ist? Das kannst du dir nicht vorstellen.
Vielleicht hatte sie nie einen Liebhaber, vielleicht spielte sich bei ihr alles nur im Kopf ab.
Plötzlich fragst du dich, ob sie vielleicht gar nicht verheiratet war und in einem Kloster lebte, männerlos und darum umso stärker.
Vielleicht genoss sie ihre Einsamkeit, denn sie ermöglichte es ihr zu schreiben.
Verachtete die Autorin gar die Ehe? Wollte sie diesen Bund sprengen? Vielleicht ist das Buch subversiver, als du zunächst dachtest. Dich beschleicht das Gefühl, sie hat es für alle Frauen, nur nicht für sich selbst geschrieben.
Nicht die Weiber seien den Männern, sondern die Männer den Weibern unterthan.
Wie hat sie eine solche Freiheit erlangt?
66. Lektion Glück und Tugend wollen gleichermaßen in Thaten umgesetzt werden
Mai. Das Wetter entspannt sich, Leichtigkeit liegt in der Luft.
Die Magazine der Bibliothek. Das Licht draußen strahlend, drinnen düster. Du warst schon ewig nicht mehr hier.
Jeder der schmalen Gänge hat eine eigene Beleuchtung, und um sie anzuknipsen, muss man vorne an einer Schnur ziehen. Deine Schritte hallen auf den Eisengittern wie das gedämpfte Schlüsselgeklirr eines Gefängniswärters. Einer der Bibliothekare blickt beim Büchereinsortieren von der unteren Etage hoch zu dir, und du erinnerst dich zu spät daran, dass du hier keinen Rock tragen solltest, eine alte Regel dieser Bibliothek, denn die luftigen Gitter geben den Blick nach oben frei. Du hast keinen Slip angezogen, um deinen erotischen Unternehmungsgeist in Schwung zu bringen, doch plötzlich kommt es dir völlig unpassend vor, in deinem Zustand überhaupt an einen Bibliotheksbesuch zu denken: Du versuchst zu arbeiten, fragst dich aber ständig, ob du zufällig Gabriel sehen wirst; du versuchst eine Leidenschaft durch eine andere zu ersticken, übersiehst aber, dass dieser Ort von beiden nur so trieft.
Er ist nicht hier. Du willst ja nur mit ihm reden, damit die Mühle deiner Gedanken wieder zum Stillstand kommt. Wenn du von den Gittern heruntersteigst, rutschen manche von ihnen leicht unter deinen Füßen weg, was in dir ein unangenehmes Schwindelgefühl hervorruft, und du bist voller Hass auf dieses neue, schartige Bedürfnis in dir, das überhaupt nicht zu deinem der Öffentlichkeit präsentierten Gesicht passt.
Du setzt dich an einen Schreibtisch. Umklammerst die Tischkanten. Atmest tief ein. Du musst dich auf das Buch konzentrieren, musst etwas daraus machen, denn dein Leben braucht einen Halt.
Und dann löst sich auf einmal der Knoten, so elegant und fügsam wie ineinander verschlungene Perlenketten, die du lange zu entwirren versuchst, bis du endlich den richtigen Perlenstrang durch die richtige Schlaufe in einer anderen Kette ziehst und der Knoten wie durch Zauber auseinander fällt.
Du wirst genau wie deine Autorin ein Buch im Geheimen schreiben. Warum nicht? Schreiben ist immer Rache, oder etwa nicht? Ja. Genau: Du fährst dir mit der Zunge über die Lippen. Greifst nach deinem Notebook. Und nach einem Nachmittag anstrengender, handfester Arbeit, die dich mit tiefem Frieden erfüllt, hast du drei Listen produziert.
Männer, mit denen du geschlafen hast, und woran du dich noch am meisten erinnerst.
Wie sie dich verführt haben.
Und wo.
67. Lektion Federbetten sind ein größerer Luxus als Matratzen,
doch es heisst,
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