Bis dass der Tod uns scheidet
verschwunden sind, und die Kinder sind doch nur Kinder. Der direkte Weg führt also zu Ihnen.«
»Und was wollen Sie?«
»Bis hierher habe ich es allein geschafft. Ich habe die Kinder in Sicherheit gebracht und bin zu Ihnen gekommen. Die Frage ist: Was wollen Sie ?«
Es gibt Augenblicke, in denen der emotionale Dienstweg zwischen Fremden abgekürzt wird – urplötzlich. Normalerweise braucht es Stunden, jede Menge Gespräche und die Präsentation von unwiderlegbaren Beweisen, bevor Menschen, zumindest die intelligenten, auch nur anfangen, einander zu trauen. Schließlich ist das Meiste von dem, was Menschen von sich geben, gelogen – in der Kirche, vor Gericht, selbst angesichts des Todes. Menschen lügen und glauben, sie sagen die Wahrheit. Das ist einer der universellen Grundzüge des Menschen.
Doch ab und zu sorgt das Bedürfnis, jemandem zu trauen, dafür, den unerbittlichen Andrang an Lügen zu ignorieren. Ich konnte in Chrystals Augen sehen, dass sie mir vertrauen wollte.
»Ich könnte die Kinder für Sie anrufen«, schlug ich vor. »Sie könnten mit Fatima reden.«
Sie sagte nichts, doch alles an ihrer Haltung sagte Ja .
Ich gab Auras Nummer ein, beim vierten Klingeln hob Theda ab.
»Hallo?«
»He, Mädchen.«
»Onkel L, hi.«
»Wie läuft’s?«
»Wir bauen ein Fort aus Pappkartons. Fatima und Boaz sind die Indianer-Scouts, und der Rest von uns wartet auf den Überfall.«
»Gib mir mal den Großen Häuptling Fatima, okay?«
Das Telefon gab gedämpfte Geräusche von sich, dann fragte eine schüchterne Stimme: »Ja?«
»Ich habe hier jemanden, der mit dir sprechen will, Fatima«, sagte ich und reichte das kleine Handy der richtigen Chrystal.
»Fatima?«
Das Lächeln, das auf Chrystals Gesicht erblühte, war das, wonach ich mich in einem langen Leben der Einsamkeit so gesehnt hatte. Es war die Liebe einer Verwandten, die sich einem Kind verbunden fühlte, das diese emotionale Berührung brauchte.
Einen solchen Kontakt wünschte ich mir mehr als alles andere.
Sie sprachen über Fatimas Geschwister, über das Haus, in dem sie wohnten, und darüber, was das Kind über mich dachte. Kein Wort, zumindest nicht von Chrystal, über Shawnas möglichen Tod.
»Natürlich könnt ihr alle bei mir wohnen«, sagte die Frau dankbar. »Wir müssen nur sicher sein, dass eure Mom einwilligt.«
Dieser letzte Satz war sehr bedeutsam. Die Kinder, zumindest die älteren, waren ziemlich sicher, dass ihre Mutter tot war. Doch ein solches Wissen ist für Kinder etwas anderes als für Erwachsene. Etwas so Endgültiges kommt nur langsam an bei jenen, deren Knochen noch weiterwachsen. Shawna würde noch sehr lange bei ihnen sein. Bei Chrystal würde sie für immer sein.
Sie sprachen mindestens eine Viertelstunde miteinander, bevor das Kind sich wieder zu den aktuellen Ereignissen in ihrem Leben hingezogen fühlte.
Chrystal sah mich schüchtern an, als sie mir das Handy zurückgab. Ich hatte etwas von ihr erfahren, das bisher nur sehr wenige gesehen hatten. Sie war offen und verletzlich, gefühlvoll und voller Liebe.
Als ich das Handy nahm, berührten sich unsere Finger.
»Zufrieden?«, fragte ich.
»Wenn Sie das so nennen wollen«, antwortete Chrystal. »Danke, dass Sie sich um die Kinder kümmern. Ich mache mir ständig Sorgen um sie. Shawna führt ein überaus gefährliches Leben.«
»Haben Sie einer gewissen Nunn ein Collier namens Indian Christmas verkauft?«
»Ja«, antwortete sie ein wenig erschrocken.
»Und haben Sie von dem Geld etwas Ihrer Schwester gegeben?«
»Meinem Bruder und ihr.«
»Haben Sie Angst, dass Cyril vorhat, Sie umbringen zu lassen?«
Es gibt eine Grenze, bis zu der man Fremden gegenüber ehrlich sein kann. Ich war an genau diese Grenze gestoßen.
Chrystal wendete den Kopf ab. Sie schlug ihre nackten Beine übereinander, und ich spürte eine kurze Erregung, die schnell wieder verging.
»Ich kenne da einen Mann«, fuhr ich fort, »einen Fahrer bei einem Limousinenservice, der Ihre Kinder sicher gern herbringen wird. Das Sorgerecht zu bekommen wird schwierig werden, wenn Sie nicht im Staat sind, und ich nehme mal an, Sie wollen sie nicht zu Pflegeeltern schicken.«
»Nein«, erklärte Chrystal.
Es war ganz so, als seien wir alte Freunde oder Verwandte. Ich wollte sie drängen, wollte mehr über ihre unklare häusliche Situation wissen. Doch es gab ein unausgesprochenes Verbot, also sagte ich nichts.
Ich stand auf.
»Ich fahre nach New York zurück und lasse Ihnen die Kinder
Weitere Kostenlose Bücher