Bis dass der Tod uns scheidet
Begabungen, Mr. McGill.«
»Was war mit Shawna?«, setzte ich nach.
»Ist sie wirklich tot?«
»Ich glaube schon.«
Chrystal zögerte einen Augenblick und dachte über ihre lebenslange Beziehung zu der Frau nach, die ihre Mutter ein wildes Geschöpf genannt hatte.
»Statt mit Stahl zu arbeiten«, erklärte die promovierte Ghettomatrosin, »hat meine Schwester aus ihrem Körper und ihrem Verstand Kunst gemacht. Sie hat Kinder bekommen, sich Feinde gemacht und nie einen leichten Weg gesucht, nicht ein einziges Mal im Leben. Ich habe sie geliebt, aber wenn sie tot ist, überrascht mich das nicht.«
Ich nickte. Über diese nüchternen Ansichten der Künstlerin zu Leben, Liebe und Tod war nichts weiter zu sagen.
»Ich nehme gleich den Zug zurück«, sagte ich. »Die Kinder werden heute Abend bei dir sein.«
»Nein«, entgegnete sie. »Wenn Shawnie tot ist, dann muss ich sie finden und begraben, danach bringe ich Fatima und die anderen an einen sicheren Ort.«
»Außerhalb von New York seid ihr wahrscheinlich sicherer.«
»Kann schon sein, aber darum mache ich mir keine Sorgen«, meinte Chrystal.
»Warum nicht?«
»Ich habe doch dich, oder?«
39
Wir waren unterwegs im gelben Prius, nicht mehr weit vom Bahnhof entfernt, als mein Handy wie ein Bär brüllte. Ich hatte den Bluetooth-Stöpsel schon im Ohr, weil ich gerade meine Mailbox abgehört hatte. Ich brauchte also nur noch in die Tasche zu greifen und einen Knopf zu drücken, um die Verbindung herzustellen.
»Hallo«, sagte ich.
Chrystal berührte mich an der Schulter.
»Mr. Mack-Gill?«, fragte eine Frauenstimme.
»Ja?«
»Hier ist Seema.«
»Also … Hallo, Seema«, sagte ich mit gezwungener Gelassenheit. »Was kann ich für dich tun?«
»Meinten Sie das ehrlich, was Sie gestern gesagt haben?«
»Jedes Wort.«
»Können Sie mich jetzt gleich holen kommen?«
»Es dauert vielleicht eine Stunde, aber wenn ich es schaffe, komme ich früher. Wo bist du?«
»Ich hab sein Geld geklaut«, erwiderte sie und bot mir damit wohl die Chance zu einem Rückzieher, nahm ich an.
»Du meinst das Geld, das du geschnorrt hast, indem du Fremde um eine Fahrkarte nach Nirgendwo anbettelst?«
»Denke schon.«
»Dann ist es eigentlich dein Geld.«
»Ich bin in einem Waschsalon auf der Phillips Avenue, Dusty’s.«
»Ein komischer Name für eine Reinigung.«
»Das ist der Name der Frau, der der Laden gehört«, erwiderte Seema ohne einen Funken Humor in der Stimme. »Sie war ’ne Freundin von meiner Ma.«
»Weiß Brody, wo du bist?«
»Sie wissen noch, wie er heißt?«
»Weiß er, wo du bist?«
»Er glaubt, ich bin Essen kaufen, aber wenn er in die Schublade schaut, dann weiß er, was ich gemacht hab.«
»Sag mir die Adresse, und ich komme, so schnell ich kann.«
Als ich hatte, was ich brauchte, legte ich auf, gab Chrystal das Handy und bat sie, die Adresse ins Navi einzugeben.
»Wo fahren wir hin?«, fragte sie ohne jeden Anflug von Misstrauen.
Ich erklärte ihr die Sache mit Seema und Brody.
»Hm«, brummte sie.
»Was?«
»Die meisten anderen hätten das Mädchen einfach verscheucht und sich um ihren Kram gekümmert.«
»In fünfzig Metern links abbiegen«, befahl eine automatische Frauenstimme.
»Ja. Ja, da hast du wohl recht«, meinte ich zu Chrystal, nicht zum Navi.
»Ist das so eine Art Krankheit bei dir?« Vielleicht meinte sie die Frage ernst.
»Soll ich dich irgendwo absetzen, solange ich mich darum kümmere?«, erwiderte ich.
»Nein.«
»Nein?«
»Das möchte ich nicht verpassen.«
»Es könnte vielleicht riskant werden.«
Ihr Grinsen hätte ein Spiegelbild von meinem sein können.
Dustys Münzwaschsalon war ein schmuddeliger kleiner Laden mit einem großen Abzugsrohr über der Eingangstür, aus dem große Dampfwolken quollen.
»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, verkündete die Navi-Dame.
Ich fuhr an dem Laden vorbei, und Chrystal meinte: »Da ist es doch.«
»Wir fahren einmal um den Block.«
Alles sah in Ordnung aus. Brody war nirgends zu sehen, und in den Nischen oder Eingängen entlang der Phillips Avenue stand auch kein Posten.
Hinter der kleinen Wäscherei gab es eine Gasse. Ich durchfuhr sie und entdeckte den Hintereingang.
Ich fuhr noch einmal um den Block und hielt schließlich auf der anderen Straßenseite gleich hinter Dustys Waschsalon.
»Hast du was, das in die Reinigung muss?«, fragte ich Chrystal.
»Nur meinen Verstand.«
»Na, dann komm.«
»Und du bittest mich nicht, im Wagen zu warten?«
»Bei mir bist
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