Bis die Daemmerung uns scheidet
»Denkst du wieder an dieses Mädchen?«
»Nein«, log ich. Ich versuchte, nicht an sie zu denken, weil es wehtat. Der Gedanke schmerzte, dass sie vielleicht irgendwo da draußen nach mir suchte. Alles, woran ich denken konnte, war, dass sie einsam war, Angst hatte, womöglich weinte. Und das meinetwegen.
Ich schloss wieder die Augen und schlug meinen Kopf gegen die Wand des Lieferwagens, sodass es wehtat und eine Delle hinterließ. Ich wünschte, Glory wäre mit uns gefahren.
Das wünschte ich wirklich.
Vor einem verfallenen alten Lagerhaus stiegen wir aus – ein weiteres mieses Gebäude aus der alten Geschichte Morganvilles, um das sich keiner mehr kümmerte. Außen am Gebäude entdeckte ich verblasste Buchstaben. Es musste wohl eine Art Teppichfabrik gewesen sein. Die wenigen Fenster, die das Backsteingebäude hatte, waren bis in den zweiten Stock hinauf von einheimischen Jugendlichen mit guten Waffen eingeschlagen worden. Wir hatten nicht viel Zeit für Sightseeing, aber ich kannte die Gegend. Man wuchs in dieser Stadt nicht auf, ohne die Orte aufzusuchen, vor denen einen die eigenen Eltern gewarnt hatten. Lyss und ich hatten in einigen dieser verlassenen Lagerhäuser herumgestöbert, als sie etwa zwölf war und ich noch dämlicher als jetzt. Wir sind davongekommen, aber wenn ich zurückblicke, kann ich nicht glauben, dass wir dieses Risiko überhaupt eingegangen sind.
Jetzt, wo sie nicht mehr da war, wurde mir ganz kalt beim Gedanken an all die Gefahren, denen ich sie ausgesetzt hatte. Wenn ich die Dinge ändern könnte, wenn ich dieses Feuer hätte löschen und sie aus dem Haus hätte holen können, bevor der Rauch und die Flammen … dann würde ich sie nie wieder irgendeiner Gefahr aussetzen. Ich würde sie beschützen. Das ist es, was ein großer Bruder tun sollte: beschützen.
Aber nein, ich hatte mich ihr gegenüber wie ein Volltrottel benommen, war auf dem Sofa eingeschlafen, und als ich wieder aufwachte, stand das Haus in Flammen und ich konnte sie nicht herausholen. Ich wusste nicht, ob sie aufgewacht war. Ich hoffte nicht. Ich hoffte, sie hatte es nie erfahren, hatte nie die gellende Angst gespürt, die ich empfunden hatte, als ich versuchte, zu ihr zu gelangen.
Hör auf, Collins. Lyss war nicht mehr da. Meine Mom und mein Dad waren auch nicht mehr. Ich musste mich jetzt darauf konzentrieren, die nächsten zwei Stunden zu überstehen, ohne an sie zu denken. Wenn ich das hier richtig machte, würde ich eine Menge Geld verdienen: Genug, um mir den Weg aus der Stadt zu erkaufen, zu verschwinden, ein neues Leben anzufangen.
Claire vergessen. Genau das musste ich tun. Vergessen. Alles vergessen.
Es wurde leichter, als Gloriana herübergeschlendert kam und meinen Arm nahm. Sie war ein Vamp, ja, aber sie fühlte sich nicht wie einer an. Ich hasste sie nicht und ich wollte ihr nicht wehtun. Ich wollte ihr gefallen, in jeder Hinsicht – nicht dass sie irgendetwas von mir wollte, außer dass ich einen guten Kampf hinlegte. Sie war nur hinter Jungs mit Eckzähnen her. Zum Beispiel Michael.
Noch ein Grund, ihn zu hassen. Als hätte ich noch einen gebraucht.
»Bist du bereit?«, fragte sie mich. »Wirst du mein Ritter in der schimmernden Rüstung sein, Shane, der mich vor all den großen bösen Männern beschützt?« Sie sagte das mit einem Lächeln, aber ich hatte das Gefühl, dass sie es nicht ernst meinte. Sie schien sich über mich lustig zu machen, aber ich konnte mich nicht allzu sehr darüber aufregen. Sie hatte etwas an sich … etwas, von dem ich tief in meinem Inneren wusste, dass ich es hasste, aber trotzdem konnte ich nicht widerstehen. »Von dir hängt heute Abend viel ab. Du musst uns eine Menge Geld einbringen, und zwar sehr schnell. Dann werden wir mit diesem Geld ein paar Schulden zurückzahlen. Alte Schulden, an jemanden, dem wir lieber nichts schulden würden, wenn du verstehst, was ich meine. Danach wird Unsterbliche Schlachten einen neuen Besitzer bekommen und Wassily und ich werden in Sicherheit sein. Und wir alle können Morganville für immer verlassen.«
Sie sagte mir Dinge, von denen ich wusste, dass sie nicht wollte, dass ich sie verstand, aber auf einer gewissen Ebene verstand ich sie trotzdem … und mir war klar, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Aber für all das war es jetzt zu spät – ebenso für Vorsichtigkeit, Nachdenklichkeit und Widerstand.
Ich hasste die Vampire, aber für Gloriana würde ich alles tun, und das wusste sie.
»Nun«, sagte sie und
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