Bis die Daemmerung uns scheidet
langen, dünnen Zeigefinger der anderen Hand an seine Lippen und beugte sich vor.
»Es tut mir so leid«, flüsterte er. »Mir ist bewusst, dass dies alles andere als schicklich ist. Stimmt doch, oder? Es ist doch sogar heute, in diesen laxen sozialen Gefügen unschicklich, das Boudoir einer Dame unaufgefordert zu betreten, oder?«
Sie nickte nachdrücklich. Er nahm seine Hand nicht weg, weil er wahrscheinlich wusste, dass sie das ganze Haus zusammenbrüllen würde, wenn er es täte.
»Wie dem auch sei – es tut mir leid, aber dies ist so etwas wie ein Notfall. Zieh dich an. Amelie will uns sehen.«
Oh. Nun, Vampire hatten andere Schlafenszeiten als Menschen, aber trotzdem. Um diese Zeit?
»Bitte, schrei nicht«, sagte er. »Es würde unter diesen Umständen ein sehr schlechtes Licht auf mich werfen.«
Das überzeugte sie mehr als alles andere und sie nickte. Myrnin nahm seine kalte Hand weg und sie atmete tief und krampfartig ein … aber sie schrie nicht. Stattdessen warf sie sich ganz schnell auf die andere Seite des Bettes, bereit, in Sekundenschnelle aus dem Zimmer zu rennen.
»Sie hätten anrufen können«, sagte Claire. Ihre Stimme klang ein wenig höher als normal. »Ich habe ein Handy.«
»Ich habe meines verloren«, sagte er. Das glaubte ihm Claire sofort. »Dumme Dinger. So klein. Es passiert so leicht, dass man sie in die Tasche steckt und vergisst, sie vor dem Waschen herauszunehmen … Na ja. Es schien leichter zu sein, einfach vorbeizukommen. Bist du angezogen?«
»Ich kann nicht glauben, dass Sie mich das fragen, während Sie mitten in der Nacht in meinem Schlafzimmer stehen. Finden Sie das nicht selbst ein wenig merkwürdig? Vielleicht sogar pervers?«
»Ah, hervorragend beobachtet … Ich werde einfach … draußen warten. Aber beeil dich. Und erzähl es niemandem.«
Claire hatte erwartet, dass Myrnin sich auf den Weg zur Tür machen würde. Stattdessen öffnete er aber ganz selbstverständlich das Fenster zum Hinterhof und kletterte hindurch. Er sprang mit einer Leichtigkeit hinunter, als würde man von einem Bordstein hüpfen, nur dass es bei ihm mindestens sechs Meter waren.
Claire machte sich nicht die Mühe, nach draußen zu schauen. Natürlich ging es ihm gut, und wenn nicht, war ihr das auch egal. Wie konnte er nur einfach so aufkreuzen, während sie schlief …
Sie kramte in ihrer Kommode nach frischer Unterwäsche, als es leise an die Tür klopfte. »Claire? Bist du wach?«
Shane. Sie erstarrte und hielt den Atem an. Am liebsten hätte sie aufgemacht, sich ihm in die Arme geworfen und Myrnin und sein seltsames Verhalten vergessen. Aber Myrnin war auf keinen Fall wegen nichts aufgetaucht. Etwas stimmte nicht und er hatte sie gebeten, mit niemandem darüber zu sprechen. Das schloss Shane leider mit ein. Sie beobachtete den Türknauf, aber er drehte sich nicht. Nach einem weiteren leisen Klopfen hörte sie seine Schritte, die sich in Richtung seines Zimmers entfernten.
Claire atmete aus, schüttelte den Kopf und murmelte: »Ich sag es noch einmal: Ich hasse dich, Myrnin.«
Angezogen, wenn auch nicht unbedingt stylish, steckte Claire den Kopf aus dem Schlafzimmerfenster. Wie erwartet ging Myrnin darunter auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf gesenkt. Er trug ein neonfarbenes Shirt, das wahrscheinlich aus den Achtzigerjahren übrig geblieben war, und war ansonsten wieder zu seinen üblichen Shorts und den bequemen Sandalen zurückgekehrt.
Nicht gerade Vampirchic, wie ihn die Popkultur definierte, aber Myrnin war sowieso niemand, der irgendwo hineinpasste. Das war er noch nie gewesen.
Er blickte zu ihr hinauf, wobei ihm die schwarzen Haare aus dem mondbleichen Gesicht fielen, und sagte: »Was ist? Spring!«
Wenn ein Vampir so einen Sprung wagte, war das eine Sache. Wenn man ein zerbrechlicher, nicht gerade athletischer Mensch war, eine ganz andere. Claire schüttelte den Kopf. Myrnin seufzte, raufte sich mit beiden Händen die Haare, als wollte er sein Gehirn an den Wurzeln herausreißen, und schien dann plötzlich eine brillante Idee zu haben. Er rannte in die Dunkelheit davon.
Einen Augenblick später war er wieder da und hatte eine Leiter dabei. Er hatte sie wohl beim Nachbarn geklaut, vermutete Claire. Na ja, besser als springen.
Hinunterzuklettern war allerdings auch nicht gerade ein Vergnügen, denn Myrnin dachte gar nicht daran, die Leiter festzuhalten, die bei jedem Schritt, den Claire machte, unangenehm schwankte und hüpfte. Die letzten paar
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