Bis die Daemmerung uns scheidet
Sprossen sprang Claire hinunter. Sie landete auf den Füßen und flüsterte: »Woher haben Sie dieses Ding?«
»Oh, von irgendwo da draußen«, sagte Myrnin und machte eine vage Handbewegung in die Dunkelheit. »Wir haben keine Zeit für Nettigkeiten. Komm jetzt bitte.«
Oh, richtig. Myrnin konnte ja nicht fahren, deshalb war da auch kein Auto, was bedeutete, dass sie zu Fuß gehen mussten. Im Dunkeln. In Vampire City. Na ja, wenigstens hatte sie einen Begleiter, auch wenn der längere Beine hatte und gar nicht daran dachte, ihretwegen langsamer zu machen. Sie musste fast rennen, um mit ihm Schritt halten zu können.
»Was ist los?«, fragte sie, als sie an der Straßenecke der Lot Street angelangt waren. Die Straßenlaterne war aus. Die meisten Straßenlaternen in Morganville waren aus, wenn man sie am dringendsten brauchte. »Was ist das für ein Notfall?«
»Ich habe herausgefunden, wer deinen Freund umgebracht hat.«
»Oh.« Claire holte tief Luft. Sie überquerten die Straße und bogen rechts ab in Richtung Founder’s Square im Zentrum der Stadt. »Wer?«
Das war eine einfache Frage, sie erwartete jedoch keine einfache Antwort. Myrnin blieb immer vage, wenn sie Klarheit am dringendsten brauchte.
Deshalb war sie überrascht, als er sagte: »Willst du es wirklich wissen?«
»Ja, klar!«
»Denk gut nach, bevor du antwortest. Willst du es wirklich wissen, Claire?«
Das klang … nicht gut. Und Myrnin wirkte sehr, sehr ernst und beherrscht, was ehrlich gesagt seltsam war.
»Gibt es einen Grund, weshalb ich es besser nicht wissen sollte?«, fragte sie. Er warf ihr einen Blick zu und wieder versetzte sie sein besorgter Gesichtsausdruck in Unruhe.
»Ja«, sagte er. »Da fallen mir sogar mehrere ein.«
»Warum zerren Sie mich dann deswegen mitten in der Nacht aus dem Bett?«
»Das war nicht meine Entscheidung. Amelie hat es befohlen. Glaub mir, ich war dagegen, aber ich wurde überstimmt.«
Claire konzentrierte sich ein paar Sekunden lang nur aufs Gehen, bis die bleichen Lichter des Founder’s Square die Finsternis vor ihnen erhellte. Die Häuser, an denen sie vorbeikamen, lagen still und dunkel da. Abgesehen von ein paar bellenden Hunden schien niemand sie zu bemerken.
»Sagen Sie es mir«, sagte sie. »Sagen Sie es mir, bevor wir dort ankommen. Es ist mir lieber, wenn ich weiß, was mir bevorsteht.«
»Ich wusste, dass du das sagen würdest.« Sie konnte nicht erkennen, ob Myrnin das gut fand oder eher resigniert klang. »Also gut. Es ist Eves Bruder. Jason.«
Jason. Nun … das schockte sie nicht so sehr, wie es vielleicht sollte. Jason hatte mit ihnen bereits gemeinsam am Tisch gesessen. Er hatte ihr sozusagen mal das Leben gerettet. Aber auf der anderen Seite hatte er sie auch terrorisiert und bedroht. Und Shane verletzt. Und zwar mit Freuden. Jason war tief in seinem Inneren kein guter Mensch.
»Eve wird das sehr treffen«, sagte Claire. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, wie schlecht sich ihre Freundin fühlen würde. Eve hatte sich so über Jasons »Umkehr« gefreut, hatte ihn so darin unterstützt, sich zu bessern. Und jetzt das. Das würde sie umhauen.
»Du bist gar nicht überrascht.«
»Eigentlich nicht. Ich meine, ich bin eher enttäuscht als überrascht. Ich hätte mir gewünscht, dass er … besser ist.«
»Ach, Claire.« Myrnin schüttelte den Kopf und zog sie mit einem Arm in eine rasche, heftige Umarmung. »Du wünschst dir, wir wären alle besser, als wir sind. Das ist entzückend und beängstigend zugleich. Ich habe dich schon so oft enttäuscht.«
»Aber nicht so.«
»Doch, genau so«, sagte er. »Vielleicht nicht ganz so blutig.«
»Was wird jetzt aus ihm?«
Myrnin warf ihr einen langen Seitenblick zu. Dabei wurde ihr bewusst, dass das nicht gerade die intelligenteste Frage gewesen war. »Nein«, sagte sie. »Nein , Myrnin. Er hat keinen Vampir umgebracht. Gewalt gegen Menschen wird von Menschen verurteilt und bestraft. So lauten die Regeln.«
»Amelie stellt die Regeln auf, Kind.«
Sie befanden sich jetzt in einem relativ verlassenen Teil der Stadt. Hier wäre Claire selbst in der gleißenden Mittagssonne nicht gern herumgelaufen. Nicht mal in Begleitung, aber da ein Vampir an ihrer Seite war, hatte sie sich zu lange sicher gefühlt.
Sie hatte es nicht kommen sehen, bemerkte es erst, als Myrnin plötzlich stehen blieb und den Kopf hob. Im silbernen Mondlicht sah sein Gesicht unbeweglich und unnatürlich blass aus. Diese merkwürdige Vampirstarre war über ihn
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