Bis die Daemmerung uns scheidet
gekommen, gegenüber der sich Claire so … verletzlich vorkam.
Dabei hatte Myrnin sie nicht plötzlich mit seinen Vampirzähnen bedroht. Er konzentrierte sich auf etwas da draußen, in der Dunkelheit.
»Claire«, sagte er mit leiser, beruhigender, sorgfältig beherrschter Stimme. »Hol bitte dein Handy heraus und ruf die Polizei an. Jetzt sofort. Benutz am besten diese Notrufnummer.«
Das war so außerordentlich untypisch für Myrnin, dass sie erschrocken das Handy aus ihrer Tasche kramte. »Warum?«, flüsterte sie, während sie die drei Ziffern eintippte.
»Weil es ein Notfall ist«, sagte er und dann prallte etwas auf ihn; etwas, das so schnell war, dass Claire es nicht sehen konnte. Sie hatte gerade erst die 911 gewählt und noch nicht auf »anrufen« getippt. Noch bevor Myrnin zu Boden ging, wurde sie von etwas mit eisernem Griff am Handgelenk gepackt. Verwirrt nahm sie einen fürchterlichen Gestank wahr, ein Körpergeruch wie der des armen Stinke-Doug, nur tausendmal schlimmer; dann das Aufglimmen fiebriger Augen und ein Gesicht, über dem sich skelettartig die Haut spannte, dazu nadelspitze Eckzähne, die wie Messer aufblitzten und geradewegs auf ihren Hals zukamen.
Myrnin schlug ihn – es? – so heftig, dass die beiden Vampire mindestens fünfzehn Meter weit schlitterten, sie wälzten sich herum und kämpften gegeneinander. Claire wurde klar, dass es vielleicht nicht die allerbeste Überlebensstrategie war, wie ein Volltrottel danebenzustehen. Sie war wie betäubt und noch vollkommen perplex vor Schreck, doch dann entdeckte sie das leuchtende blaue Display ihres Handys im Gras. Sie kroch darauf zu und drückte auf »anrufen«. Mit gehetztem Blick sah sie sich um und versuchte, sich zu orientieren. Alles war dunkel, aber an der Ecke erkannte sie im schwachen Licht einer unterversorgten Straßenlaterne ein Straßenschild.
Sie war nur zwei Blocks vom Founder’s Square entfernt.
Claire rannte los und drückte sich dabei das Handy ans Ohr. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass es sich anfühlte, als würde ein Vorschlaghammer gegen ihre Brust schlagen. Trotzdem rannte sie, so schnell sie ihre Füße trugen, in Richtung einer etwas zweifelhaften Sicherheit, da sie nur das Zusammentreffen mit weiteren Vampiren bedeutete.
»Neun-eins-eins. Was ist Ihr Notfall?«
Atemlos stieß Claire hervor, wo sie war und wollte gerade erklären, was zum Teufel gerade passiert war, aber sie stolperte. Das Handy flog durch die Luft, als sie das Gleichgewicht verlor und segelte in hohem Bogen auf den Asphalt zu.
Sie streckte die Hände nach vorne, aber es war nicht der Asphalt, auf dem sie kurz darauf aufschlug.
Es war Myrnin, der sie auffing. Er warf ihr einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte, und schnappte sich ihr heruntergefallenes Handy, als sie wie betäubt darauf zeigte. Er hatte Blut im Gesicht und lange Kratzer wie von einem Tier, die nur langsam heilten. Auch seine Kleidung war zerrissen.
Ohne ein weiteres Wort hob er sie hoch und rannte auf den Founder’s Square zu. Es dauerte nicht lange – dreißig Sekunden vielleicht –, doch Claire nutzte die Zeit, um sich zu sammeln und zu versuchen, ihren rasenden Herzschlag zu verlangsamen. Du wirst nicht sterben. Beruhige dich.
Die Ereignisse der letzten Minuten drängten sich trotzdem vor ihrem inneren Auge: Myrnins Schrecken. Das skelettartige Gesicht. Der Geruch des Todes.
Es war ein verhungernder, wilder Vampir gewesen. Solche sollten in Morganville eigentlich nicht vorkommen. Vampire hatten hier freien Zugang zur Blutbank. Aber auch für die Gesetzesbrecher gab es haufenweise leichte Opfer. Wie hatte dieser Vampir so skelettartig, so wild werden können? Und warum hatte er zuerst Myrnin angegriffen und nicht sie? Claire hatte das Gefühl gehabt, dass er sich nur aus dem Grund auf sie gestürzt hatte, weil sie Hilfe rufen wollte.
Aber das ergab keinen Sinn.
»Irgendetwas geht hier vor«, sagte sie, als Myrnin mit ihr um die Ecke bog und sie den Founder’s Square wie ausgestorben vor ihnen liegen sah. »Lassen Sie mich runter.«
»Mir geht es gut«, sagte Myrnin. Er blieb stehen und ließ sie zu Boden gleiten. »Danke der Nachfrage, Claire. Wenn man bedenkt, dass ich mich gerade unvorstellbarer Gefahr ausgesetzt habe, um den Inhalt deiner Venen und deine unsterbliche Seele zu schützen, könnte man annehmen, dass du wenigstens nachfragst.« Er versuchte, der alte, sorglose Myrnin zu sein, aber er war völlig aus der Fassung. Claire bemerkte, dass sie
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