Bis die Daemmerung uns scheidet
dem dreiflügeligen Spiegel und sah ihr Spiegelbild finster an. Zu der Khakihose, für die sie sich heute entschieden hatte, passte das rosa-weiße Spitzenoberteil merkwürdigerweise gut – und sah irgendwie sexy aus. Sie hatte es in den letzten Monaten weit gebracht, aber sie war sich nicht sicher, ob sie schon bereit war, in der Öffentlichkeit sexy zu sein. Das war einfach nicht sie.
In der Umkleidekabine war es zu still. Claire klopfte an die Tür. »Miranda? Hey, komm raus und sieh dir das an. Sag mir, ob das zu heftig ist.«
Miranda spähte um die Ecke, ihr Gesicht war leichenblass. Ihre Augen waren dunkel und hatten dieses leere Starren an sich, das auf eine von ihren Visionen hinwies.
»Es ist Blut darauf«, sagte sie. »Du solltest es nicht kaufen, wenn Blut darauf ist.«
Claire sah an sich hinunter. Das Oberteil war vollkommen sauber. »Mir …«
Mit einem Ruck öffnete Miranda die Tür. Sie hatte eines der Oberteile an, das sie ausgesucht hatten, und Claire hatte den flüchtigen Eindruck, dass es ihr total gut stand, aber das Mädchen war auf etwas ganz anderes fixiert. Sie schnappte sich sämtliche Klamotten, ging geradewegs zum Ladentisch und sagte: »Ich nehme das, das und das, was ich anhabe.« Sie legte den kaufen- Stapel ab und reichte der Verkäuferin das, was übrig blieb. »Aber darin kann ich mich einfach nicht sehen.«
Claire merkte, dass sie das wörtlich meinte: Miranda hatte in die Zukunft geschaut und konnte nicht sehen, dass sie tatsächlich dieses Oberteil trug. Bizarr. Die Verkäuferin schien das jedoch nicht verstanden zu haben – wie auch? – und nannte den Preis. Miranda bezahlte und Claire blieb kaum Zeit, die fünf Dollar für das rosa-weiße Oberteil herauszukramen, denn Miranda packte sie bereits am Arm und sagte: »Wir müssen gehen. Beeil dich.«
»Aber …«
»Sofort!«
Miranda hetzte sie nach draußen, den Gehweg entlang und bog dann links in eine Gasse zwischen zwei Gebäuden ab. »Versteck dich dort«, sagte sie und deutete auf eine Stelle. »Genau hier. Komm nicht heraus, Claire. Komm nicht heraus, egal, was passiert. Hast du verstanden? Es ist okay. Alles wird gut, aber nicht, wenn du herauskommst.«
»Miranda, was zum Teufel …«
Mirandas Gesicht war jetzt kreideweiß, aber sehr entschlossen. Sie sah an sich hinunter und sagte traurig: »Es ist total süß, nicht wahr? Dieses Shirt?«
»Ja, es ist perfekt. Aber was ist …«
»Pst.« Miranda wandte sich dem Ausgang der Gasse zu und deutete erneut auf die Schatten hinter ein paar Mülltonnen. »Komm nicht heraus!«
»Warte. Was passiert, wenn ich herauskomme?«
»Dann sterbe ich«, sagte Miranda einfach. »Versteck dich.«
Claire gefiel das nicht, aber es lag so viel Überzeugung in dem, was Miranda gerade gesagt hatte. Miranda hatte etwas Irrsinniges an sich, und manchmal auch Machtvolles.
Deshalb drückte sie sich gehorsam in den Schatten.
Für ein paar lange Augenblicke passierte gar nichts, dann hörte sie Schritte – selbstbewusste Schritte von hochhackigen Schuhen. Sie hallten von den Backsteinwänden wider, wurden langsamer und verstummten.
»Ich habe dich in diese Gasse gehen sehen«, sagte Ginas Stimme. »Du Freak. Versteckst du dich jetzt in dunklen Gassen? Was soll das? Wohnst du in einem Müllcontainer? Nicht dass mich das überraschen würde.«
Miranda antwortete nicht. Claire war kurz davor, herauszukommen, weil Gina allein war. Außerdem würde sie sowieso nicht zulassen, dass es Miranda allein mit ihr aufnahm, ganz egal, was sie gesagt hatte.
Als wüsste das Mädchen, woran sie dachte, ließ es seine Hand hinter seinen Rücken wandern und machte damit eine schiebende Bewegung. Bleib, wo du bist.
Und Claire gehorchte. Es gefiel ihr nicht, aber sie tat es.
»Du wirst mich schlagen«, sagte Miranda. »Du wirst mir die Nase brechen.«
»Ganz genau«, sagte Gina. Sie klang träge und glücklich, als würde sie das Ganze genießen. »Du hast Glück, dass das alles ist, was ich will. Wenn du dich bewegst, wenn du dich wehrst, dann kommt es noch schlimmer. Verstanden?«
»Ja«, sagte Miranda. »Verstanden. Wenn ich dich davon abhalte, mich zu schlagen, dann bringst du mich um.«
Claire spürte, wie sie ein kalter Schauder überlief, denn in Mirandas Stimme lag nicht der geringste Zweifel. Sie klang nicht ängstlich. Sie klang einfach … sachlich, als hätte sie es schon passieren sehen.
»Du bist klüger, als du aussiehst, du durchgeknalltes Huhn. Also, ja. Ich breche dir die Nase
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