Bis du erwachst
«zauberhaftes» Menü aus Würstchen, gebackenen Bohnen und Eiern. Millie hing dieses Gericht schon zum Hals hinaus, ebenso das Leitungswasser, das sie trinken mussten, weil Lena entschieden hatte, dass Orangenlimo Geldverschwendung sei.
«Wann kommst du wieder?», hatte Millie in den Hörer geflüstert. Sie wollte nicht, dass Cara sie hörte. Sie würde sie damit so lange aufziehen, bis sie zu weinen begann. Oder sie einen Schwächling nennen oder so schlimme Sachen sagen wie: «Sie macht sich doch gar nichts aus uns!»
«Rede lauter, Mills, ich kann dich nicht verstehen», sagte ihre Mutter am anderen Ende der Leitung.
Millie linste ins Wohnzimmer. Cara war in eine Zeitschrift vertieft, auf deren Titelblatt ein kostenloser Lippenstift klebte. «Wann kommst du zurück? Kommst du bald wieder?», fragte sie.
«Ja, Mills … bald.»
«Wann?»
Sie konnte hören, wie Kitty entnervt seufzte, aber sie musste jetzt wirklich wissen, wann ihre Muter wiederkam, denn sie brauchte Geld für einen Schulausflug ins Museum. Und obwohl Millie derartige Ausflüge langweilig fand, wollte sie nicht als Einzige zurückbleiben, nur weil ihre Eltern es sich nicht leisten konnten. Ihre Mum war schließlich eine berühmte Schauspielerin (na ja, sozusagen)!
«Ich habe es dir doch gesagt, Mills. Es kommt darauf an, aber ich bin bald wieder da. Vielleicht schon nächste Woche. Du weißt, wie das ist im Showbusiness.»
«Ja, Mum.»
«Dieses Stück könnte ausverkauft sein, ein irrer Erfolg werden. Du weißt doch besser als jeder andere, wie hart ich dafür gearbeitet habe!»
Millie fand es toll, dass ihre Mutter von allen auserwählt worden war.
«Du willst doch, dass ich Erfolg habe, Liebling, oder?»
«Ja», flüsterte Millie und spielte mit der Telefonschnur.
«Na also.»
«Dann läuft es also gut?»
«O ja, Mills. Sehr, sehr gut. Es ist großartig. Genau meine Welt.»
Millie lächelte. Ihre Mum war eine richtige Schauspielerin, genau wie im Fernsehen!
Sie musste Lena anschwärzen, um so an das Geld zu kommen.«Ich brauche Geld für einen Schulausflug ins Museum. Lena will es mir aber nicht geben.»
«Warum fragst du nicht deinen Vater?»
«Dad ist doch nicht da.»
«Ach so, ja, hab ich vergessen – er ist ja fort, nicht?»
«In Amerika, auf Geschäftsreise, Mum. Das hast du doch gewusst!»
«Ich hab’s bloß vergessen, das ist alles.»
«Wann kommst du zurück?», hakte Millie nach. Lena hatte etwas gesagt wie, dass sie das Geld, das jetzt noch übrig war, für Lebensmittel brauchten.
«Millie, hör auf zu nölen. Ich dachte, du willst, dass ich weiter Schauspielerin bin. Das hast du doch eben gesagt!»
Millie legte traurig den Hörer auf.
Lena wollte ihr das Geld für den Ausflug immer noch nicht geben. «Hör auf damit, Millie», schalt sie. Millie konnte einfach nicht einsehen, wieso Lena nicht nachgab. Es war nicht gerecht, und sie war wütend auf ihre Schwester – nicht ihre Mutter oder ihren Vater –, weil sie es zuließ, dass sie in eine so schwierige Lage geriet. Alles war nur Lenas Schuld.
Millie stürmte in ihr Zimmer und kreischte: «Ich hasse dich!» Ruhig und schweigend wie immer hob Lena den Schulranzen auf, den Millie in ihrem Zorn in die Ecke geschleudert hatte.
Als Erwachsene verstand Millie natürlich, dass ihre Reaktion übertrieben gewesen war. Im Lauf der Jahre war ihr immer klarer geworden, wie schwer es für Lena gewesen sein musste, für sie und für Cara den Haushalt am Laufen zu halten. Und sie waren wahrhaftig nicht die Bravsten gewesen. Lena musste ihnen ständig hinterherlaufen, darauf achten,dass sie gesund waren, dass sie genug zu essen bekamen und etwas zum Anziehen hatten. Was sie tat, ging weit über die Pflichten einer Schwester hinaus. Sie hatte die Rolle der Eltern übernommen, die eigentlich anderen zugedacht war. Aber die waren nicht da.
Sie war damals viel zu jung gewesen, sie hatte es nicht richtig verstanden. Das war Millies Ausrede gewesen.
Bis jetzt.
Denn selbst jetzt noch, als sie längst erwachsen waren, warfen sie und Cara ihre Spielsachen immer noch voll Trotz aus dem Kinderwagen. Sie sagten Lena nie, wie sehr sie sie liebten und schätzten. Lena war wie eine Mutter zu ihnen gewesen – das konnte nicht geleugnet werden. Millie konnte nur hoffen, dass Lena wusste, welche Bedeutung sie für ihr Leben hatte. Sie hoffte, dass Lena wusste, wie sehr sie sie liebte.
Mit Kitty hatte sie eine Mutter verloren. Der Gedanke, jetzt schon wieder eine zu
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