Bis du erwachst
ein paar Ideen aufgeschrieben, was sie zu der klassischen Frage «Warum sollten wir die Stelle ausgerechnet Ihnen geben?» sagen könnte. Er hatte auch daran gedacht, ein paar wissenswerte Kleinigkeiten zur Firma mitzuschicken, mit denen sie sicher würde punkten können.
«Sei vor allem ganz du selbst», sagte er, als er später am Abend anrief.
«Was: faul, nervig und ohne Verantwortungsgefühl?»
«Hat Lena dich etwa so gesehen?»
Sie seufzte in den Hörer und schluckte hart. Nein, Lena sicher nicht. Sie wäre so stolz auf sie, wenn sie sähe, wie sehr sie sich bemühte, Arbeit zu finden. Und vor allem wäre sie stolz, wenn sie wüsste, dass sie die ganzen Anstrengungen nur für sich selbst unternahm, nicht für irgendeinen Mann und auch nicht für Lena, sondern für sich selbst. Und das fühlte sich ungewohnt gut an.
«Lena würde sagen, ich soll es versuchen. Und dass ich es schaffe.»
«Genau! Deine Schwester hat recht!», versetzte er begeistert.
«Du bist so komisch!»
«Nein, nur glücklich. Zum ersten Mal seit langer Zeit.»
«Das ist bestimmt das ganze Endorphinzeug, das im Fitnessstudio und beim Laufen frei wird.»
«Vielleicht. Aber dieser Tage gibt es auch eine Menge, was mich zum Lächeln bringt.»
«Was denn?» Er lächelte eigentlich immer, fast wie eine übergeschnappte Grinsekatze, dachte sie liebevoll.
«Die Bäume, der Sonnenschein.»
«Wir haben November. Es gibt keine Sonne, und die Bäume sind kahl.»
«Na und? Es ist immer noch toll, hier zu sein. Es zu erfahren. Es alles in sich aufzusaugen. Findest du nicht?»
«Na, wenn du meinst!» Millie lachte. «Kann ich dich morgen nach deiner Arbeit auf einen Drink ins A&R einladen? Zum Dank?»
«Lieber nicht. Ich will vor Ende der Besuchszeit noch zu Lena, und dann gehe ich früh ins Bett. Es ist, als hätte ich den Schlaf wiederentdeckt.»
Millie wünschte sich etwas von dem, was Michael antrieb,von der Energie und der Hoffnung. Sie hatte zwar auch das Gefühl, dass sich die Dinge änderten, aber bei ihr würde es noch eine ganze Weile dauern, bis sie da war, wo Michael jetzt stand.
Ein paar Tage darauf passierte etwas Merkwürdiges.
«Kitty?», rief Millie. Lenas Zimmertür stand offen. Einen winzigen Augenblick lang glaubte sie, Lena sei zurückgekommen. Aber das war natürlich Unsinn. Sie schaute ins Zimmer und erwartete halb, Lena dort zu sehen, wie sie auf ihrem riesigen Bett herumhüpfte und lachend rief, wie sehr sie alles vermisst hätte. Stattdessen sah sie dort Kitty. Sie lag auf dem Bett und presste Kleidungsstücke von Lena an sich, Papiere, den Gürtel mit der Herzschließe. Der Inhalt von Lenas Schmuckschatulle war über das ganze Bett verstreut, und Kittys Gesicht war geschwollen vom Weinen.
«Ich habe es versucht, Millie. Ich habe versucht, stark zu sein. Ich koche, ich mache sauber, ich versuche mich zu beschäftigen, aber eigentlich will ich nur eines: dass sie wieder aufwacht. Sie muss es einfach!»
Millie hatte Kitty noch nie so gesehen, so völlig außer sich, beinahe verrückt. Ihr Make-up war verschmiert, sie sah aus wie ein irrer Panda. Wie sie da so zusammengekauert saß, wirkte sie noch winziger, noch verletzlicher als sonst. Millie wäre am liebsten zu ihr gegangen und hätte sie in die Arme genommen. Wäre in die Rolle der Mutter geschlüpft, die Lena immer so gut zu spielen gewusst hatte. Aber wie würde Kitty reagieren?
Millie tat einen Schritt auf sie zu. «Kitty, ist mit dir alles in Ordnung?»
«Ich wollte ihr nur nahe sein, aber auf einmal habe ich erkannt, dass ich gar nichts weiß über sie. Über meine eigeneTochter.» Sie wischte sich die Augen. «Und da habe ich mich umgesehen. Hab ein paar Sachen gefunden. Sie liest gern Zeitschriften, stimmt das?»
«Sie liebt diese Klatschblätter, aber das würde sie nie zugeben.»
«Ich habe auch gesehen, dass sie altes Zeug mag …», sie sah sich aufgeregt um, «… Antiquitäten, ach, und Blumen. Das hat sie von mir. Margeriten. Ich wusste, dass sie Margeriten mag. Die hat sie schon als kleines Mädchen gemocht. Einmal hat sie mir welche gepflückt …»
Kitty hatte aufgehört zu weinen. Millie setzte sich neben sie aufs Bett und sah, dass sie einen geöffneten Brief in der Hand hielt.
«Was hast du denn da?»
«Ach, nichts. Den lege ich in die Schublade zurück, sobald ich mich wieder gefangen habe. Ich räume das alles wieder auf. Tut mir furchtbar leid.» Es war erstaunlich, normalerweise entschuldigte Kitty sich nie. Und Millie
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