Bis du erwachst
hatte den Eindruck, als gelte diese Entschuldigung irgendetwas anderem.
Als Kitty ihr Make-up erneuert hatte und
Diagnose: Mord
im Fernsehen kam, schien sie wieder ganz die Alte. Gemeinsam hatten sie Lenas Sachen aufgeräumt, und am Schluss schaute Millie nur noch mal in die Schublade, um sicherzugehen, dass alles ordentlich verstaut war. Da sah sie den Brief, den Kitty so fest umklammert gehalten hatte. Millie wusste, dass es nicht richtig war, aber sie konnte einfach nicht anders: Sie nahm den Brief heraus und wünschte sich gleich darauf, sie hätte es nicht getan.
September 2006
Meine liebe Tochter Lena,
bestimmt warst Du enttäuscht, als ich am Flughafen nicht aufgetaucht bin.
Ich war kurz davor, hier ins Flugzeug zu steigen, aber wie Du weißt, habe ich es dann doch nicht getan.
Stattdessen habe ich entschieden, dass es am besten ist, wenn wir keinen Kontakt mehr haben. Es ist lobenswert, dass Du mich mit Hilfe des Internets gefunden hast. Du warst ja immer die Neugierigste von euch Dreien. Aber das muss jetzt aufhören. Es ist so viel passiert. So viel Zeit ist vergangen.
Ich habe beschlossen, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Das bedeutet, dass ich weder anrufen noch schreiben, noch je wieder nach England kommen werde. So muss es sein. Für uns alle ist es an der Zeit, nach vorne zu schauen. Ich weiß, Du wirst das verstehen. Bitte halte mich jetzt nicht für einen schlechten Menschen.
Ich wünsche Dir und Deinen Schwestern in Eurem weiteren Leben alles Gute.
Alles Liebe,
Donald Curtis
Zuerst fühlte Millie sich seltsam betäubt. Als sie den Brief dann ein zweites Mal gelesen hatte, begann ihr Magen vor Zorn zu brennen. Schließlich wurde sie traurig, aber nicht nur ihrer selbst wegen, weil er ihren Namen nicht einmal erwähnt hatte, sondern hauptsächlich wegen Lena, die bisher ganz allein damit zurechtkommen musste, dass ihr Vater Donald Curtis sie alle drei nie wieder zu sehen wünschte.
Am nächsten Morgen erfuhr sie, dass sie zum Vorstellungsgespräch in Michaels Firma eingeladen war. Endlich hattesie etwas, worauf sie sich vorbereiten konnte, das sie davon ablenkte, dass sie ziemlich deprimiert war.
Millie war stolz auf sich. So stolz, dass sie es am liebsten Lena erzählt hätte. Aber Lena lag im Krankenhaus, und sie wollte ihre Neuigkeiten
jetzt
weitererzählen.
«Ich habe Neuigkeiten», begann sie vorsichtig. Schließlich war es nur ein Vorstellungsgespräch, nicht der Friedensnobelpreis. Kitty und auch Cara würde das sicher nicht groß interessieren. Wen sollte es überhaupt interessieren? Millie überlegte, was Lena wohl gesagt hätte. Sie wusste, dass es etwas Positives, Aufmunterndes und vor allem Ehrliches gewesen wäre.
«Ich hab ein Vorstellungsgespräch, Kitty!»
«Was?»
«Ich hab …»
«Nein, ich habe dich schon verstanden», sagte sie und begann dann unvermittelt, wild im Wohnzimmer umherzuspringen.
«Meine Mills hat einen Job!»
«Noch ist es nicht so weit, Kitty!» Aber eigentlich war Millie entzückt, dass Kitty offenbar an ihre Fähigkeiten glaubte, vor allem, weil sie das gar nicht erwartet hatte.
«Das müssen wir feiern, aber ich habe nichts da. Kein Sekt,
nada
!»
«Aber Lena hat was.»
Im Küchenschrank hinter den Gläsern hatte Lena in einer marokkanischen Holzbox immer ihren Geheimvorrat an Toblerone verwahrt. Und dahinter lag eine Flasche Weißwein.
«Meinst du, sie hat was dagegen?», fragte Kitty, als Millie eingoss. «Hundert Prozent nicht. Außerdem kann ich ihr von meinem ersten Gehalt eine ganze Kiste kaufen.»
Sie setzten sich aufs Sofa und tranken auf ihr Vorstellungsgespräch. Millie genoss die Aufmerksamkeit, mit der ihre Mutter sie überschüttete.
«Weißt du noch, wie ich, du, dein Daddy und deine Schwestern nach Amerika gefahren sind? Wir haben bei einem Cousin deines Vaters gewohnt, bei dem mit dem kleinen Kopf.»
«Nein, das weiß ich nicht mehr.» Sie wollte sich erinnern, sie hätte so gern teilgenommen an dem Gespräch über ihre Vergangenheit. Stattdessen kuschelte sie sich auf das Sofa und nahm noch einen Schluck Wein.
«Nein, du warst damals ja auch erst vier Jahre alt. Lena war zehn, Cara neun. Ja, das war ein schöner Urlaub. Da hatte ich natürlich noch keine Ahnung, dass er ein paar Jahre später mit dieser Kreolin, dieser Glenda Martinique dort hinziehen würde. Wer hätte das auch ahnen sollen?»
«Vermisst du ihn?»
«Wen, deinen Vater? Hmm, mal überlegen, vermisse ich seine Gefühlskälte? Die
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