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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ersten Mal fiel es ihm tatsächlich leicht, seine Mutter zu belügen.
    Jack hörte Mrs. Oastler durch den Flur gehen. Er hörte, wie die Tür
zu Emmas Zimmer zugeknallt wurde, bevor Mrs. Oastler sie erreichte. Jack wußte,
daß seine Mutter und Mrs. Oastler Emma viel wütender gemacht hatten als ihn,
und dabei war er alles in allem schon ziemlich wütend.
    Jack lächelte, als seine Mutter ihm einen Gutenachtkuß gab. Er
wußte, welches Lächeln seiner Mutter am besten gefiel, und das zeigte er ihr.
Er war müde und besorgt, doch irgendwie wußte er, daß er gut schlafen würde.
Mrs. Machado hatte in Emma eine überlegene Gegnerin gefunden, daran bestand für
Jack kein Zweifel.
    Am nächsten Morgen weckte ihn Emma, noch bevor ihre Mutter
aufgestanden war. (Jacks Mutter stand nie früh auf – es war immer Mrs. Oastler,
die ihn zur Sporthalle in der Bathurst Street fuhr.) Gewöhnlich zog der Junge
sich an, aß eine Schüssel Haferflocken oder einen Toast und trank ein Glas
Milch und ein Glas Orangensaft, und ungefähr um diese Zeit kam dann auch Leslie
in die Küche und kochte sich Kaffee.
    Mrs. Oastler war morgens freundlich zu Jack, aber nicht sehr
gesprächig. Sie strich ihm über das Haar oder den Hinterkopf [350]  und machte ihm
ein Lunchpaket: ein Sandwich, ein Apfel und ein paar Kekse – diese vor allem
dann, wenn sie nicht wollte, daß sie Emma in die Hände fielen.
    Doch als Jack an diesem Morgen Mitte August erwachte, drehte sich
der Deckenventilator mit Höchstgeschwindigkeit. Emma stopfte Shorts, Socken und
ein T-Shirt in die Sporttasche, die Jack immer mitnahm. »Wir gehen heute mal
früher zum Training, Zuckerbär. Von jetzt an bin ich deine Trainingspartnerin.
Aber bevor wir anfangen, will ich mir von dem Wolfkopf ein paar Sachen zeigen
lassen.«
    »Von Tschenko?«
    »Ja, von dem Wolfkopf«, sagte Emma.
    »Aber warum müssen wir so früh gehen?«
    »Weil ich ein großes Mädchen bin, Süßer. Und die müssen sich erst
aufwärmen.«
    »Aha.«
    Als sie barfuß hinunterschlichen – sie versuchten, so leise wie
möglich zu sein –, lag auf dem Küchentisch bereits eine Nachricht. Emma mußte
sie noch in der Nacht geschrieben haben. ( »Ich bin mit Jack
beim Training« stand da – oder etwas in der Art.)
    Emma und Jack gingen zum Forest Hill Village und frühstückten in
einem Café in der Spadina Road. Er bestellte Rosinenbrötchen und je ein Glas
Milch und Orangensaft. Emma trank nur Kaffee und nahm einen großen Bissen von
einem Rosinenbrötchen.
    Dann gingen sie zur St. Clair Avenue, und er zeigte ihr das
dunkelbraune, schmutzige Mietshaus, in dem Mrs. Machado wohnte. Er fürchtete
sich ein bißchen, weil Emma so stumm und zielstrebig ausschritt – daß sie
nichts sagte, sah ihr gar nicht ähnlich. Sie schien so wütend zu sein, daß Jack
fand, er solle ihr eine nette Geschichte über Mrs.
Machado erzählen, eine Geschichte, die Sympathien weckte. Zu seiner Schande
mochte er [351]  Mrs. Machado im Grunde. (Später würde er erkennen, daß das ein
Teil des Problems war.)
    »Mrs. Machado muß andauernd das Schloß an ihrer Wohnungstür wechseln
lassen, weil ihr Exmann immer wieder bei ihr eindringen will«, sagte er.
    »Hast du so ein neues Schloß mal gesehen?« fragte Emma.
    Jetzt, da er darüber nachdachte: nein. »Ich kann mich nicht
erinnern«, sagte er.
    »Vielleicht gibt es gar keine neuen
Schlösser, Zuckerbär.«
    Das war nicht das Gespräch, das er sich vorgestellt hatte.
    Als sie vor der Sporthalle standen, war es so früh, daß Krung noch
nicht da war. Ein paar ziemlich gute Kickboxer machten Übungskämpfe. Tschenko
saß auf zusammengerollten Ringmatten und trank Kaffee. »Jackie!« rief er, als
er Emma sah. »Hast du deine Freundin mitgebracht?«
    »Ich bin Jacks neue Trainingspartnerin«, sagte Emma. »Jack ist noch
zu jung für eine Freundin.«
    Tschenko stand auf und schüttelte Emma die Hand. Er war Anfang
Sechzig und um die Taille ein bißchen dick, aber die Brust- und Armmuskeln
zeichneten sich deutlich ab, und für einen Mann, der nur eins achtundsiebzig
groß war und dabei achtzig bis fünfundachtzig Kilo wog, war er erstaunlich
leichtfüßig.
    »Das ist Emma«, sagte Jack zu Tschenko, der sich verbeugte, als er
ihr die Hand reichte. Emma betrachtete den zähnefletschenden Wolf auf Tschenkos
kahlem Schädel, als wäre es ein Schoßhündchen. (Jack hatte ihr bereits davon
erzählt.)
    »Du mußt ungefähr eins achtzig groß sein, Emma«, sagte Tschenko.
    »Eins einundachtzig«,

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