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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Mutter – unter
anderem Neuigkeiten über Mrs. Machado. Sie war verhaftet worden, weil sie sich
im Sir Winston Churchill Park an einem zehnjährigen Jungen vergriffen hatte.
Wie sich herausstellte, waren ihre Kinder weder erwachsen noch »weggezogen« –
sie waren elf und fünfzehn und lebten in einem anderen Teil von Toronto bei
ihrem Vater, der glücklich wiederverheiratet war. Es bestand eine gerichtliche
Verfügung gegen Mrs. Machado, die ihren jetzt fünfzehnjährigen Sohn mißbraucht
hatte, als dieser zehn gewesen war.
    Selbstverständlich hatte ihr Exmann sie nie angegriffen. Es gab
überhaupt keinen Grund, das Schloß ihrer Wohnungstür auswechseln zu lassen.
Möglicherweise bedeutete das M in M. Machado gar nicht Mrs., jedenfalls nicht
mehr. Und ganz gleich, wer sie war – die Gründe, warum sie Kickboxen und Ringen
hatte lernen wollen, blieben unklar.
    Alice sagte Jack nichts davon, obwohl sie die Geschichte sicher
verfolgte. Emma sagte, es habe in allen Zeitungen gestanden, »mit Fotos und
allem Drum und Dran«. Vielleicht kam Alice gar [371]  nicht auf den Gedanken, Mrs.
Machado könnte sich an Jack vergriffen haben. Wahrscheinlicher ist, daß sie
nicht darüber nachdenken wollte. Sie fühlte sich geborgen in der Fiktion, daß
Jack ihr schon etwas gesagt hätte, wenn etwas vorgefallen wäre.
    Wozu Emma sarkastisch bemerkte: »Na klar. Und wenn bei ihr was gewesen wäre, hätte sie es dir erzählt.«
    Jack schrieb der Frau in Grau nicht so regelmäßig wie sie ihm.
Mrs. McQuat war eine kluge Frau, doch Jacks erste Ratgeberin war nun Emma. Wie
eigenartig, daß das frühere Mißverständnis des Jungen – daß Prostituierte
Ratgeberinnen seien – gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt war. Emma
war natürlich keine Ratgeberin, aber Sex und das Erteilen von Ratschlägen waren
für sie anscheinend austauschbar.
    Auch Jacks Briefwechsel mit Miss Wurtz war eher unregelmäßig. Er
fühlte sich mehr Mr. Ramsey verbunden, nicht nur wegen seiner Rolle als Braut
auf Bestellung. Die Reise nach Maine, die er in Begleitung von Mr. Ramsey
gemacht hatte, erwies sich als derart prägende Erfahrung, daß die Wurtz als
Mentorin auf dem überaus wichtigen Gebiet der Schauspielkunst von Mr. Ramsey
abgelöst wurde.
    Jack fuhr fort, von Miss Wurtz in Unterwäsche und so weiter zu träumen,
doch er war an einem Scheidepunkt in seinem Leben angelangt, und es erschien
ihm bedeutend wichtiger und sinnvoller, auf Mr. Ramsey zu hören – trotz der
Tatsache, daß Mr. Ramsey in seinen Äußerungen oft mehr Wert auf die Wirkung als
auf den Gehalt legte. (Es wäre heuchlerisch gewesen, wenn Jack, der
Schauspieler, ihm das vorgeworfen hätte.)
    Als ihr Flugzeug in Portland gelandet war, nahm Mr. Ramsey Jacks
Hände. »Jack Burns!« rief er so laut und unvermittelt, daß der Junge glaubte,
die Maschine mache eine Bruchlandung. »Was immer daraus wird – jetzt bist du in
Maine!« Jack sah besorgt hinaus auf den vorbeijagenden Asphalt der Rollbahn.
»Denk [372]  daran, Jack – eine Schule mit einem Motto wie Redding kann nicht ganz
schlecht sein. Laß es mich hören.«
    »Was hören?«
    »Das Motto deiner Schule.«
    Jack hatte es bereits vergessen. Im Gegensatz zu Mr. Ramsey hatte
Jack in der Kleinen Schulphilosophie eine gewisse
militärische Herzhaftigkeit entdeckt. Das Wort »Charakter« wurde in jedem
erdenklichen Zusammenhang gebraucht. »Anstand ist die Norm«, hatte die
Broschüre erklärt. Vielleicht war das das Motto.
    »Anstand ist die Norm?« sagte Jack fragend.
    »Aber natürlich ist er das!« antwortete Mr. Ramsey sofort. »Aber das
ist nicht das Motto. Ich muß mich wundern, Jack Burns – du hast doch sonst ein
so bemerkenswertes Gedächtnis.«
    Jack erinnerte sich an die Passage in der Broschüre, in der von
»Interaktionen« mit anderen Schülern die Rede war. »Vermeide unflätige Wörter!«
hatte dort gestanden. Er hatte den ungewöhnlichen Rat nicht vergessen, war aber
intelligent genug, um zu wissen, daß es sich hierbei nicht um das Schulmotto
handelte – auch wenn es gepaßt hätte. Die neuen Schüler wurden angewiesen, sich
ihren Kameraden gegenüber weder abfällig noch herabsetzend zu verhalten. Und
der Kern des Regelkodexes war ein »Charaktervertrag«, den jeder Schüler
unterschreiben mußte. Darin stand, wer andere nicht achte, könne auch sich
selbst nicht achten. Jack hatte seinen Namen daruntergesetzt, aber dieser Satz
klang für seine Begriffe nicht so, als ließe sich daraus ein Motto

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