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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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schmieden.
    »Ein Tip, Jack: Es ist auf Latein.« Als ob das helfen würde!
    In Portland waren der Himmel blau und die Luft noch sommerlich warm.
Maine war keineswegs so kalt, wie Jack gedacht hatte, doch die Kälte würde nicht
mehr lange auf sich warten lassen. Das Flughafengebäude wirkte so
reparaturbedürftig wie die Start- und Landebahn.
    »Labor omnia vincit!« rief Mr. Ramsey
einigen vorübergehen [373]  den Piloten zu. Sie hielten ihn offensichtlich für
verrückt. »Sie haben noch kein Motto gehört, wenn Sie es nicht aus dem Mund von
Jack Burns gehört haben«, sagte er zu einer überraschten Stewardess, einer
attraktiven Frau von Mitte Dreißig.
    »Labor omnia vincit«, sagte Jack mit
Nachdruck und besonderer Betonung des Wortes vincit.
    »Sag ihr, was es bedeutet, Jack«, sagte Mr. Ramsey, doch die
Stewardess achtete nicht auf ihn; sie hatte nur Augen für Jack. Er war in einem
fremden Land – ausgerechnet in Maine –, und obgleich er sich weder an das Motto
seiner neuen Schule erinnern konnte noch daran, was es bedeutete, bereitete es
ihm keine Mühe, die Gedanken der Flugbegleiterin zu lesen. Für Jack gehörte sie
eindeutig in die Kategorie »ältere Frau«. Der Junge lächelte sie lediglich an,
aber er wußte genau, was sie dachte.
    »Gut, daß er nicht ohne Begleitung reist«, sagte sie zu Mr. Ramsey,
ohne die Augen von Jack zu wenden.
    »Das ist Jack Burns«, sagte Mr. Ramsey. »Er hat ein Gedächtnis wie
ein Elefant – allerdings nicht heute.«
    »Labor omnia vincit«, wiederholte Jack und
versuchte, sich daran zu erinnern, was dieser Satz bedeutete.
    »Arbeit…«, begann Mr. Ramsey, doch Jack unterbrach ihn. Der Satz war
ihm wieder eingefallen.
    »Arbeit überwindet alles«, sagte der Zehnjährige zu der Stewardess.
    »Wie dumm von mir – ich dachte immer, daß es die Liebe ist, die
alles überwindet«, sagte sie.
    »Nein, die Arbeit «, sagte Jack
entschieden.
    Die Stewardess seufzte und zerzauste ihm das Haar. Obwohl sie zu Mr.
Ramsey sprach, sah sie weiterhin nur Jack an. »Ich wette, er wird noch
unzählige Herzen brechen«, sagte sie.
    Es war noch hell, als sie mit dem Mietwagen in
nordnordwestlicher Richtung nach Redding fuhren; Portland und das Meer [374]  blieben hinter ihnen zurück. Nach Lewiston gab es nicht mehr viel zu sehen.
West Minot hinterließ keinen großen Eindruck, ebensowenig wie East Sumner und
West Sumner, doch das Fehlen eines Ortes namens Sumner fiel Mr. Ramsey auf.
»Wie es scheint, steht Maine auf der Liste der amerikanischen Bundesstaaten mit
intelligent gewählten Ortsnamen nicht ganz oben.«
    Die Sonne ging unter, und die Wildnis, durch die sie fuhren, wirkte
mehr als nur ein bißchen einsam. Zuvor hatten Jack und Mr. Ramsey eine lebhafte
Diskussion darüber geführt, wie sich Mrs. Wicksteeds
Sei-zweimal-nett-Philosophie gegenüber feindseligen Schülern in Redding würde umsetzen
lassen, doch nun wurden sie schweigsamer. Die trostlose Landschaft bewegte
selbst einen überschwenglichen Menschen wie Mr. Ramsey dazu, das
Unaussprechliche auszusprechen. »Ich muß sagen, Jack – das sieht mir sehr nach
einer Gegend für Bräute auf Bestellung aus.« Jack wurde bang ums Herz. Mr.
Ramsey versuchte, das Thema zu wechseln. »Ich nehme an, die meisten Jungen in
Redding sind Internatsschüler, meinst du nicht auch?«
    »Wahrscheinlich«, sagte Jack.
    Redding war eine private (oder sogenannte unabhängige) Schule für
die Klassen fünf bis acht. Während Mrs. Oastler sich das Schulgeld leisten
konnte – und zwar »ohne mit der Wimper zu zucken«, wie Alice sagte –, machten
die Kleinstädte, Dörfer und Weiler, durch die sie fuhren, den Eindruck, als
könnten hier nur wenige Leute ihre Söhne nach Redding schicken. Es gab auch
Stipendien, doch nur fünfzehn bis zwanzig Prozent der Schüler erhielten eine
solche Beihilfe. Redding war finanziell nicht sonderlich gut ausgestattet.
    Mr. Ramsey hatte zwischen den Zeilen der Kleinen
Schulphilosophie gelesen und Jack seine Interpretation mitgeteilt; ihm
war aufgefallen, wieviel Unsicherheit und Übervorsichtigkeit aus dem ersten
Satz sprach. »Zunächst einmal: Nicht alle Redding-Schüler haben
Schwierigkeiten.«
    [375]  Natürlich legte das den Eindruck nahe, daß viele oder sogar die
meisten Schüler sehr wohl Schwierigkeiten hatten, und Mr. Ramsey spekulierte
laut, in welchen Bereichen diese wohl liegen mochten. »Ich nehme an, sie kommen
aus zerrütteten Familien oder sind in anderen Schulen rausgeflogen.«
    »Aber

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