Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Frau in Grau
gesagt.
    Da Emma an ihrer eigenen Mutter einiges auszusetzen hatte, fand
Jack, daß er sich bei ihr über seine Mutter beklagen durfte. »Ich will doch
bloß wissen, was für ein Typ er war, verdammt noch mal!«
    »Ich muß dich bitten, auf deine Ausdrucksweise zu achten,
Zuckerbär.«
    Emma und Jack hatten die Kleine Schulphilosophie gelesen, die die Schulleitung von Redding an neue Schüler und deren Eltern
verschickte. Im Regelkodex wurde großer Wert auf eine anständige Ausdrucksweise
gelegt. Auch Mr. Ramsey, der sich bereiterklärt hatte, mit Jack nach Maine zu
fahren, hatte die Broschüre eifrig studiert; er fand den Regelkodex »sehr
anspruchsvoll«.
    Am Tag bevor Jack und Mr. Ramsey nach Maine abreisten, ließen sich
Emma und Jack bei einem Friseur in Forest Hill Village identische Frisuren
verpassen. Der Schnitt stand Jack gar nicht mal schlecht, auch wenn die Haare
kürzer waren als bei den schlaffen Mop-Frisuren, die viele Jungen 1975 trugen.
Doch bei Emma waren kurze Haare ein Fehler. Es war kein Messerschnitt, aber
doch sehr eindeutig eine Jungenfrisur, die den Nacken frei ließ. Während sie
insgesamt weiterhin abnahm, hatte Emmas Nacken sichtlich zugelegt – all die
Nackenbrücken mit fünfundzwanzig Pfund auf der Brust, drei- bis viermal pro
Woche. Sie hatte einen Nacken wie ein Footballspieler, und das kurze Haar
unterstrich noch den ungünstigen ersten Eindruck, den man von Emma Oastler
gewann, nämlich daß sie überhaupt keinen Nacken hatte. Von hinten sah sie aus
wie ein Mann.
    Jack kam als erster dran und stand dann neben dem Stuhl, während
Emma die Haare geschnitten bekam. »Deine Mutter wird dich umbringen«, sagte er.
    »Wie denn?« fragte Emma.
    [369]  Da hatte sie recht: Emma hätte Mrs. Oastler in der Mitte
durchbrechen können wie ein Eisstäbchen. Wie sich bald herausstellen würde, war
nicht einmal Tschenko ihr gewachsen. Nachdem Jack nach Maine gefahren war,
ersetzte Tschenko ihn als Emmas Trainingspartner. Für einen Mann seines Alters
war er gut in Form, und er wog zwölf bis fünfzehn Kilo mehr als sie – nicht zu
vergessen seine erhebliche Erfahrung als Ringer. Aber Jack wußte, wie weh man
sich tun konnte, wenn man sich zu sehr bemühte, dem Gegner nicht weh zu tun.
Beim Ringen war es nicht gut, sich zurückzuhalten.
    Tschenko merkte, daß Emma sich gegen ihn lehnte. Er hätte einen
Hüftschwung ansetzen können, zögerte aber, weil er fürchtete, sie zu verletzen.
Und während er zögerte, führte Emma einen perfekten Hüftschwung aus. Als sie
auf seiner Brust landete, brach sie ihm das Brustbein. Das ist eine jener
Verletzungen, die nur langsam heilen, besonders bei jemandem, der über sechzig
ist.
    Emma blieb nichts anderes übrig, als mit Boris und Pawel zu
trainieren. Die waren wenigstens jung genug, um Verletzungen zu riskieren.
    Als sie im Spiegel des Friseursalons ihre identischen Frisuren
begutachteten, war Jack klar, daß St. Hilda verrückt gewesen war, Emma als
Internatsschülerin aufzunehmen. Sie hatte die falsche Einstellung – und
obendrein breite Schultern und Kragenweite 42.
    »Und das mit siebzehn«, sagte Jack.
    Jack war kein bißchen überrascht, daß Emma nur ein Jahr lang
Internatsschülerin blieb – er wunderte sich eher, daß sie es überhaupt so lange
blieb. Zur großen Erleichterung der Schule und mit Mrs. Oastlers widerwilliger
Zustimmung zog Emma wieder zu Hause ein und besuchte die zwölfte und dreizehnte
Klasse als Tagesschülerin. Sie übernahm den Gästeflügel und richtete sich in
Alice’ ehemaligem Zimmer ein, gegenüber von [370]  Jacks Zimmer – in dem er in den
kommenden Jahren allerdings nicht gerade oft sein würde.
    Alice bemühte sich nicht, eine Fassade aufrechtzuerhalten, und
schlief bei Leslie Oastler. (Laut Emma kaum eine Woche, nachdem Jack abgereist
war.) Emmas Entscheidung, in den Gästeflügel zu ziehen, entsprang weniger dem
Wunsch, die größtmögliche Distanz zu den beiden zu haben, als vielmehr ihrem
Ärger darüber, daß weder ihre noch Jacks Mutter je über ihre Beziehung
sprachen. Es war nicht Alice’ Art, über irgend etwas zu sprechen, und Mrs.
Oastler hatte ihre Tür zu oft vor Emma verschlossen, als daß sie
realistischerweise erwarten konnte, sie wieder öffnen zu dürfen. Auch Alice
hatte viele Türen vor Jack verschlossen, und sollte sie endlich – irgendwann –
bereit sein zu reden, dann würde er gar nicht zuhören, das stand für ihn fest.
    In Maine hörte er mehr von Emma als von seiner

Weitere Kostenlose Bücher