Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
sagte Jack. »Der mit dem
kleinsten Soldaten von allen – weißt du noch?«
    »Ja, natürlich.«
    »Der Traum jedenfalls.«
    »Ich wußte gar nicht, daß du noch oft davon geträumt hast«, sagte
Alice.
    »Die ganze Zeit«, log er. »Und in
letzter Zeit ganz oft.«
    »Ich verstehe«, sagte seine Mutter. »Das tut mir leid.«
    Überall lagen Stofftiere – es war, als hätte ein Massaker
stattgefunden. Alice wandte sich zum Gehen, blieb aber in der Tür stehen und
drehte sich noch einmal um.
    »Danke, daß du Jack eine so gute Freundin bist, Emma«, sagte sie.
    »Wir werden Freunde fürs Leben sein«, antwortete Emma.
    »Hoffentlich«, sagte Alice. »Gute Nacht, ihr beiden«, sagte sie, als
sie zur Treppe ging.
    »Gute Nacht, Mom«, rief Jack ihr nach.
    »Gute Nacht!« rief Emma. Unter der Decke suchte und fand ihre Hand
seinen Kleinen, der eingeschlafen zu sein schien. »Wie schnell du vergißt«,
sagte sie zu seinem Penis.
    Wie in alten Zeiten, dachte Jack im Einschlafen, ohne sich genauer
zu fragen, was an diesen »alten Zeiten« gut gewesen war und was nicht. Sogar
Emmas Schnarchen war tröstlich.
    In der Sporthalle an der Bathurst Street hatte Emma einen ganzen
Film mit Fotos von Jack und Tschenko verschossen: Tschenkos
Wolfskopf-Tätowierung aus den verschiedensten Blickwinkeln; Jack, wie er mit
gekreuzten Beinen neben dem alten Ukrainer auf der Matte saß; Tschenko, der dem
Jungen den Arm um die Schultern legte, auf eine Art, die Jack väterlich fand.
    Jack hörte Emma schnarchen und stellte sich die Fotos vor. Bald
würde er in Maine sein, aber er hatte keine Angst mehr. Als er in den Schlaf
hinüberdämmerte, glaubte Jack, daß es in Maine nichts gab, was ihm angst machen
könnte.
    [363]  Die älteren Mädchen, die sogenannten älteren Frauen, würden
Jack fehlen. Selbst die, die sich an ihm vergriffen hatten. (Manchmal besonders die, die sich an ihm vergriffen hatten.) Auch
Mrs. Machado fehlte ihm – mehr, als er Emma gegenüber zugab.
    Jack fehlten sogar die Mädchen, die sich nicht an ihm vergriffen
hatten – unter anderem Sandra Steward, die hinter der Bühne gekotzt hatte, die
zweisprachige Stotterin, die Braut auf Bestellung, die auf einem Hundeschlitten
gevögelt wird und davonläuft und in einem spektakulären Schneesturm erfriert.
Wie abartig war es, daß er sich an sie erinnerte?
    Jede einzelne würde ihm fehlen, jede Haupt- und Nebenfigur in diesem
Meer von Mädchen. Diese Mädchen – diese Frauen – hatten ihn stark gemacht. Sie
hatten Jack Burns auf das (feste und weniger feste) Festland des Lebens
vorbereitet, auf das er zusteuerte, und das schloß das Leben mit Jungen und
Männern ein. Nach dem Meer von Mädchen würden Jungen das reinste Kinderspiel
sein! Nach Jacks Erfahrungen mit älteren Frauen würden die Männer überhaupt
kein Problem sein!

[365]  III
    GLÜCK

[367]  16
    Frostschäden
    In
den hektischen letzten Tagen vor seiner Abreise nach Maine war Jacks Mutter
damit beschäftigt, Namensschildchen in seine neuen Kleider zu nähen. Mrs.
Oastler hatte mit ihm eingekauft. In Redding gab es keine Schuluniform, es
waren keine Farben vorgeschrieben, aber die Jungen trugen Jackett und Krawatte
und entweder khakifarbene Baumwoll- oder graue Flanellhosen – keine Jeans. Da
Leslie Oastler die Sachen ausgesucht hatte, würde Jack einer der
bestgekleideten Schüler in Redding sein.
    Alice hätte mit ihm sprechen sollen, sie hätte Jack alles sagen
sollen. Doch anstatt zu reden, nähte sie.
    Für Jack ergab das alles keinen Sinn. Als er vier gewesen war,
hatten sie fast ein Jahr damit verbracht, in all diesen Hafenstädten nach
seinem davongelaufenen Vater zu suchen, doch in den vier Jahren, in denen er in
St. Hilda zur Schule gegangen war, hatte Alice ihn kaum erwähnt. Jetzt war Jack
zehn und machte sich zunehmend Gedanken über ihn. Daß William derart
dämonisiert wurde, machte dem Jungen angst, vor sich selbst und dem, was einmal
aus ihm werden würde. Seine Mutter mißbilligte es, wenn er nach seinem Vater
fragte. Alice war nur selten grausam zu Jack, aber sie konnte kalt sein, und
nichts brachte diese Kälte zuverlässiger zum Vorschein als Fragen nach seinem
Vater.
    Alice hatte die Tür zu diesem Thema wohl an die hundert Mal
geschlossen. »Wenn du alt genug bist«, sagte sie meist – Jack hörte geradezu,
wie die Tür ins Schloß fiel.
    Einmal hatte er mit Mrs. McQuat darüber gesprochen. [368]  »Beklag dich
nicht über eine Frau, die ein Geheimnis bewahren kann«, hatte die

Weitere Kostenlose Bücher