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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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warum wohl?« fragte Jack.
    »Ich würde sagen, nicht einmal in Neuengland gibt es viele
Internate, die Fünftkläßler aufnehmen. Aber ich
glaube auch, daß ein Junge wie Jack Burns an dieser Schule geradezu aufblühen
wird.«
    »Aufblühen?«
    »Ich würde sagen, es handelt sich um eine Schule, wo die Einstellung
wichtiger ist als die Leistung, und es wird zu deinem Vorteil sein, daß bei dir
beides vorhanden ist.« Jacks Stärke lag eher auf dem Sektor der Einstellung als
dem der Leistung, was der gute Mr. Ramsey wußte, doch er war nicht zu bremsen.
Seine Begeisterung für Jack kannte nur eine Laufrichtung und Geschwindigkeit:
schnell vorwärts. »Und ich habe den Eindruck, daß eine Erziehung, die auf
Charakterbildung abzielt, in einer reinen Jungenschule durch weniger Ablenkung
beeinträchtigt wird – ich meine, weniger Ablenkung für einen gutaussehenden
Burschen wie Jack Burns.«
    »Sie meinen: keine Mädchen.«
    »Genau, Jack. Du solltest an Mädchen nicht einmal denken. Dein Ziel ist es, für deine Kameraden ein Held zu
sein – oder, sofern das nicht möglich ist, wenigstens wie ein Held dazustehen.«
    »Warum ein Held?« fragte Jack.
    »An einer Jungenschule gibt es Helden und Fußsoldaten. Es ist
schöner, zu den Helden zu gehören.«
    Emma hatte recht gehabt: Es fiel Mr. Ramsey tatsächlich schwer, über
das Lenkrad zu sehen. Er war so klein wie Mrs. Machado, wog aber zehn Kilo
weniger. Obwohl er es an einer [376]  Mädchenschule zum Helden gebracht hatte,
hielt Jack es für wahrscheinlich, daß Mr. Ramsey früher zu den Fußsoldaten
gehört hatte. Sein sorgfältig gepflegter spatenförmiger Bart war nicht größer
als das Sandschäufelchen eines Kindes, und seine Füße (Schuhgröße 38, schätzte
Jack) reichten kaum bis zu den Pedalen. »Wo werden Sie heute nacht schlafen?«
fragte Jack. Der Gedanke daran, daß Mr. Ramsey allein und im Dunkeln zurück
nach Portland würde fahren müssen, erfüllte den Jungen mit Sorge. Doch Mr.
Ramsey war ein tapferer Mann – seine Sorge galt allein Jack.
    »Wenn es Ärger gibt, Jack, dann sieh zu, daß du ein Publikum hast.
Wenn dich mehrere Jungen drangsalieren, nimm dir den stärksten zuerst vor. Aber
sorge für viele Zeugen.«
    »Warum Zeugen?«
    »Wenn er dich umbringen will, hält ihn vielleicht einer von den
anderen davon ab.«
    »Aha.«
    »Hab keine Angst vor einer Prügelei, Jack. So was ist auf jeden Fall
eine Gelegenheit zum Schauspielern.«
    »Ich verstehe.«
    So fuhren sie durch den Südwesten von Maine. Die Einsamkeit der
Gegend war atemberaubend. Kurz vor ihrem Ziel hielt Mr. Ramsey an einer
Tankstelle. Jack war erleichtert, daß Mr. Ramsey wenigstens mit vollem Tank
zurück nach Portland fahren würde. Es war eine jener ländlichen Tankstellen,
bei denen man auch alles mögliche andere kaufen kann, hauptsächlich Chips und
Erfrischungsgetränke, Zigaretten und Bier. Auf einem Hocker hinter der Kasse
saß eine dicke Frau, zu ihren Füßen lag hechelnd ein blinder Hund. Sogar im
Sitzen war sie größer als Mr. Ramsey. Durch das Ringkampftraining konnte Jack
das Gewicht anderer Menschen recht gut schätzen. Die Frau wog jedenfalls mehr
als neunzig Kilo.
    »Wir sind unterwegs nach Redding«, verkündete Mr. Ramsey.
    [377]  »Das hätte ich Ihnen auch sagen können«, erwiderte die dicke
Frau.
    »Wir sehen nicht so aus, als wären wir aus Maine, stimmt’s?«
vermutete Mr. Ramsey. Die Frau verzog keine Miene.
    »Eine Schande, den Jungen auf ein Internat zu schicken – er muß sich
ja noch nicht mal rasieren«, sagte sie und nickte in Jacks Richtung.
    »Tja«, sagte Mr. Ramsey, »es gibt heutzutage viele Schwierigkeiten,
in die eine Familie kommen kann. Und nicht immer hat man die Wahl, wie man
damit umgeht.«
    »Es gibt immer die Wahl«, widersprach die Frau. Sie griff unter die
Kasse, holte eine Pistole hervor und legte sie auf die Theke. »Zum Beispiel«,
fuhr sie fort, »könnte ich mir das Hirn rausblasen und hoffen, daß irgend jemand
morgen früh den Hund findet – nicht daß irgend jemand einen blinden Hund nehmen
würde. Vielleicht wäre es besser, erst den Hund zu erschießen und mir dann das Hirn rauszublasen. Was ich damit sagen will: Es
ist nie unkompliziert, aber man hat immer die Wahl.«
    »Ich verstehe«, sagte Mr. Ramsey.
    Die dicke Frau bemerkte den Blick, mit dem Jack die Waffe ansah, und
verstaute sie wieder unter der Theke. »Es ist noch ein bißchen früh am Abend,
um einen zu erschießen«, sagte sie mit einem

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