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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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hatte etwas von der magischen Verheißung eines Zirkusartisten.
    Er zog sein Anzugjackett aus und reichte es Alice, so höflich und
selbstverständlich, als wäre sie seine Frau. Dann knöpfte er umständlich eine
Manschette seines weißen Hemdes auf und krempelte den Ärmel bis über den
Ellbogen hoch. Auf seinem Unterarm war der erwähnte Fisch ohne Wasser; es war
eine [65]  hervorragende Tätowierung, und der Fisch sah eindeutig so aus, als
gehöre er genau dorthin. Der Kopf lag an Lindbergs Handgelenk, während sich die
Schwanzflosse an seinen Ellbogen schmiegte. Es war zwar kein Karpfen, aber mit
großer Wahrscheinlichkeit ein japanischer Entwurf, womöglich ein
Schleierschwanz. Die Farben waren ein schimmerndes Blau und ein leuchtendes
Gelb, das über ein intensives Grün in Mitternachtsschwarz und Schanghairot
überging. Torsten Lindberg spannte die Muskeln an, drehte leicht den Unterarm
und das Handgelenk, und der Fisch begann zu schwimmen, in einer wellenförmigen
Abwärtsbewegung, als wollte er ihm aus der Hand fressen.
    »Jetzt hast du einen gesehen«, sagte Lindberg zu Jack, der seine Mutter
ansah.
    »Das ist eine ziemlich gute Tätowierung«, sagte sie, »aber ich
wette, sie ist nicht von Doc Forest.«
    Ruhig und ohne Zögern antwortete er: »Es wäre ungehörig, Ihnen
meinen Doc Forest in der Öffentlichkeit zu zeigen.«
    »Dann kennen Sie Doc Forest?« sagte Alice.
    »Natürlich. Ich dachte, Sie kennen ihn ebenfalls.«
    »Nur seine Arbeiten«, gab Alice zu.
    »Dann wissen Sie, was eine gute Tätowierung ist«, sagte Lindberg mit
wachsender Erregung.
    »Packen Sie Ihren Fisch wieder weg«, sagte Alice. »Wenn Sie Zeit
haben – ich habe ein Zimmer und alles, was man braucht.« (Später fand Jack es
schade, daß er und seine Mutter nie gelernt hatten, was »Packen Sie Ihren Fisch
wieder weg« auf schwedisch hieß.)
    Sie gingen mit Torsten Lindberg auf ihr Zimmer, wo Alice ihm ihre
Flashs zeigte und die Konturiermaschine bereitmachte. Das war, wie sich
herausstellte, verfrüht: Lindberg war ein Connaisseur, der sich keinesfalls
spontan irgendeine Tätowierung stechen lassen würde.
    Zunächst einmal bestand er darauf, Alice seine anderen [66]  Tätowierungen zu zeigen, auch die auf seinem Hintern. »Nicht wenn Jack dabei
ist«, sagte Alice, aber er versicherte ihr, all seine Tätowierungen seien
absolut jugendfrei.
    Es war natürlich der Anblick der Spalte, den Alice ihrem Sohn
ersparen wollte, doch der Hintern eines dünnen Mannes ist kein großer Schock,
und Lindberg hatte nichts Anstößigeres zu bieten als ein Auge auf der linken
und einen Kußmund auf der rechten Pobacke. Das Auge schien auf den Spalt im
mageren Hintern zu starren, und die Lippen sahen aus wie ein Kuß, der soeben
und mit noch feuchtem Lippenstift dort aufgedrückt worden war.
    »Sehr nett«, sagte Alice in einem Ton, der keinen Zweifel daran
ließ, wie wenig sie von dieser Zurschaustellung hielt. Schnell zog er die Hose
wieder hoch.
    Doch er hatte noch andere Tätowierungen, eigentlich sogar recht
viele. Ein Buchhalter nimmt am öffentlichen Leben gemeinhin in bekleidetem
Zustand teil. Wahrscheinlich wußte niemand, der geschäftlich mit Lindberg zu
tun hatte, daß er tätowiert war – und ganz gewiß nicht, daß er ein Auge auf
seinem Hintern hatte! Er hatte auch einen Tatovør-Ole, den Alice sofort
erkannte: Es war Oles nackte Frau mit dem Schamhaar in Form jener eigenartig
umgedrehten Augenbraue. Allerdings war bei dieser nackten Frau eine Kleinigkeit
verändert. (Jack wußte nicht, was es war, weil seine Mutter ihn nicht genauer
hinsehen ließ.) Und Torsten Lindberg hatte auch einen Tatoeërer-Pieter aus
Amsterdam und einen Herbert Hoffmann aus Hamburg. Doch selbst neben diesen
hervorragenden Werken war es der Doc Forest, der Alice am meisten beeindruckte.
    Auf Lindbergs schmaler, eingesunkener Brust fuhr ein Clipper unter
vollen Segeln, ein Dreimaster mit schnellem Rumpf und hohen Masten. Vor seinem
Bug reckte sich ein Seeungeheuer: Der Kopf der Schlange war so groß wie das
Hauptsegel; sie erhob sich an der Backbordseite des Schiffs aus dem Meer, doch [67]  ihre Schwanzspitze ragte an der Steuerbordseite aus dem Wasser. Das Schiff
war dem Untergang geweiht – für dieses Ungeheuer war es nichts weiter als ein
kleiner Fisch.
    Alice sagte, Doc Forest müsse früher einmal Matrose gewesen sein. In
ihren Augen war dieses Schiff weit besser als das mit dem HEIMWÄRTS -Banner auf dem Brustbein des verstorbenen
Charlie Snow.

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