Bis ich dich finde
Seemannsviertel mit vielen Matrosenkneipen und
Restaurants, wurde der Stadtteil mit jedem Tag schicker, wie Jack später von
Diego erfuhr.
Diego war ein kleiner Mann mit freundlichem Blick und
Ziegenbärtchen. Seine Unterarme waren komplett mit Tätowierungen bedeckt. Eine
zeigte ein ziemlich konventionelles Frauenporträt von fast fotografischem
Realismus. Dann gab es noch eine ganz und gar unkonventionelle Nackte mit einer
Ente. Diego hatte noch andere Tätowierungen, am deutlichsten jedoch blieb Jack
die nackte Frau mit der Ente im Gedächtnis.
[780] Diego, der Tochter Alice nie kennengelernt, aber von ihr gehört
hatte, war ihm sympathisch. Er hatte drei Kinder und nahm nicht regelmäßig an
den Tätowierertagungen teil. Er hatte bei Verber in Berlin gelernt und in
Kapstadt gearbeitet. Er plante eine Reise nach Thailand, um sich in einem
Kloster von einem Mönch von Hand tätowieren zu lassen. »Eine Brusttätowierung«,
wie er sagte. Er neige zu »großen Werken«, erklärte er – sowohl bei denen, die
er sich stechen lasse, als auch bei denen, die er selbst steche. Erst kürzlich
habe er jemandem ein komplettes Filmplakat auf den Rücken kopiert.
Bei Diego arbeiteten zwei Lehrlinge: Einer war ein Muskelmann mit
einer Hose in Tarnfarben und einem schwarzen Jack-Daniel’s-T-Shirt. Der andere
war eine Blondine mit Namen Taru. Offenbar machte sie die Piercings: Sie hatte
einen Silberstecker in der Zunge. Außerdem war noch ein Freund von Diego mit
Namen Nipa da, der Jack eine ziemlich komplizierte Geschichte darüber erzählte,
wie er versehentlich ein Taschenbuch in eine Toilette habe fallen lassen. Es
sei sein Lieblingsroman gewesen, sagte Nipa, und er suche nach der besten
Methode, das Buch zu trocknen.
Jack unterhielt sich mit Diego über das Verhältnis von Seeleuten zum
Tätowieren. Diego hatte schon mit vierzehn sein erstes eigenes Boot besessen.
Die Flashs im Duck’s Tattoo waren eindrucksvoll: Indianerhäuptlinge, Drachen,
Totenschädel, Vögel, Harleys und zahlreiche Comicfiguren wie etwa der Joker –
und natürlich Enten, jede Menge aufgedrehte Enten.
Diego gab zu, daß er kein großer Kinogänger sei – er erwähnte erneut
seine drei Kinder –, doch Taru, die Piercerin, und der Muskelmann im
Jack-Daniel’s-T-Shirt hatten sämtliche Filme von Jack gesehen. (Nipa sagte zu
Jack, er sei eher ein Bücher- als ein Kinomensch, wie man auch schon aufgrund
des Unfalls in der Toilette hätte vermuten können.)
»Sie haben nicht zufällig mal einen Organisten namens [781] William
Burns tätowiert?« fragte Jack Diego. »Unter Tätowierern heißt er der Musikmann.
Die meisten seiner Tätowierungen sind wohl Noten. Er könnte ein Full-body
sein.«
»Von wegen könnte sein !« sagte Diego
lachend. »Ich habe ihn nie tätowiert – ich habe ihn nie kennengelernt –, aber
soviel ich höre, hat der Musikmann nicht mehr allzuviel freie Haut übrig!«
In sein Zimmer im Hotel Torni zurückgekehrt, versuchte Jack,
einen Brief an Michele Maher zu schreiben. Vielleicht wußte sie als Hautärztin,
warum manche Leute mit Ganzkörpertätowierungen froren. Eine merkwürdige Art,
einen Brief an eine Frau zu beginnen, der er seit fünfzehn Jahren nicht
geschrieben und mit der er ebensolange nicht gesprochen hatte, zumal die
Ganzkörpertätowierten womöglich nur zu frieren glaubten. Was, wenn sie sich das nur einbildeten und es gar nichts mit ihrer Haut zu tun
hatte?
Unter den Tätowierern selbst gingen die Meinungen in dieser Frage
auseinander; Alice war der Überzeugung gewesen, daß die meisten
Ganzkörpertätowierten froren, doch einige Tätowierer, die Jack bei der
Trauerfeier für seine Mutter kennengelernt hatte, hatten ihm gesagt, viele
Ganzkörpertätowierte fühlten sich völlig normal.
»Diejenigen, die frieren, sind von vornherein entweder verfroren
oder verrückt!« hatte North Dakota Dan gesagt.
Aber wie sonst hätte Jack nach fünfzehnjährigem Schweigen einen
Brief an Michele Maher beginnen können?
Liebe Michele,
ich bin hier in Helsinki auf der Suche nach
einem lesbischen Paar. Und was läuft so bei Dir?
Wenn das nicht zu verdreht war! Jack
zerknüllte das Blatt. Vielleicht sollte er den Anfang etwas allgemeiner halten.
[782] Liebe Michele,
stell Dir vor, meine Mutter ist gestorben. Wie sich jetzt
herausstellt, hat sie mich über meinen Vater belogen – vielleicht auch noch
über vieles andere. Ich bin in Europa. Früher habe ich geglaubt, mein Vater
hätte hier so ziemlich mit
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