Bis ich dich finde
Herengracht wurde Richard in der feuchten Nachtluft
ein wenig wacher. Im nachhinein erschien es Jack unvermeidlich, daß Wild Bill
einen Bummel durch das Rotlichtviertel vorschlug, damals aber hatte es ihn
überrascht. Als sie an den ersten Frauen in ihren Fenstern und Hauseingängen
vorbeikamen, merkte Jack, daß Richard wieder hellwach war. Anneke langweilte
sich noch immer. Jack hatte das Gefühl, Wild Bill veranstaltete für seine
auswärtigen Freunde eine Führung durch das Rotlichtviertel; immerhin spielte
hier seine Fernsehserie, und er kannte sich gut aus. (Fast so gut wie Jack, der
aber nicht zu erkennen gab, daß er schon einmal hier gewesen war.)
Anneke lebte ein bißchen auf, zumal als sie beobachtete, daß die
Prostituierten Jack Burns ebenso oft erkannten wie sie. Als attraktive
Moderatorin war sie im holländischen Fernsehen eine Institution, aber dennoch
nicht berühmter als Jack. Und der war nicht nur ein Filmstar, sondern hatte
zusätzlich den Vorteil, daß [885] Nico Oudejans sämtliche Huren im Viertel
aufgefordert hatte, die Augen nach Jack Burns offenzuhalten.
»Jack, du falscher Fuffziger!« rief einer der Transen-Stricher,
wahrscheinlich ein Brasilianer, ihm zu. (Die Transen hatten es auf ihn
abgesehen.) Das ließ Anneke aufhorchen, aber Wild Bill hatte ein paar Flaschen
Rotwein intus und merkte nichts. Der Verrückte Holländer redete ohne Punkt und
Komma auf Richard ein.
Plötzlich ärgerte sich Jack darüber. Vanvleck führte das
Rotlichtviertel vor, als hätte er es erfunden, als hätte er höchstpersönlich
alle Frauen engagiert. Dem armen Richard machten der Jetlag und die
überwältigende Zwielichtigkeit des Viertels zu schaffen. Für Anneke war es
bislang in jeder Hinsicht eine Nacht, die man getrost vergessen konnte.
Na wartet, dachte Jack. Ich zeig euch was, das werdet ihr nicht so schnell vergessen! »Das ist noch gar nichts«, verkündete er, als sie den Oudekerksplein
umrundeten. Er führte sie über die Warmoesstraat aus dem Rotlichtviertel
hinaus. »Ihr habt’s erst gesehen, wenn ihr Els gesehen habt.«
»Els?« fragte Vanvleck.
»Wohin gehen wir?« fragte Richard. (Sie entfernten sich immer weiter
vom Hotel, das war alles, was er mitbekam.)
»Els ist die älteste noch aktive Prostituierte in Amsterdam«,
verriet ihnen Jack. »Eine alte Freundin von mir.«
»Ach ja?« sagte Wild Bill, der neben ihm herwankte.
Jack ging ihnen voran über den Damrak. Inzwischen war es spät in der
Nacht. Bestimmt war Els schon schlafen gegangen. Vielleicht saß Petra, ihre
erst einundsechzigjährige Kollegin, noch in dem Fenster im ersten Stock.
Vielleicht war sie aber auch schon zu Hause und im Bett. Egal, Jack würde Els
wecken, bloß um Wild Bill, Richard und Anneke zu zeigen, daß er eine
Amsterdamer Vergangenheit hatte, die ein bißchen tiefer ging als eine
holländische Fernsehserie.
[886] In der schmalen Sint Jacobsstraat angekommen, torkelte Wild Bill.
Die Straße konnte nachts leicht bedrohlich wirken. Jack sah, wie sich Richard
ein paarmal umblickte, und Anneke nahm Jacks Arm und ging dicht neben ihm.
Zu Jacks Überraschung saß Els, nicht Petra, im Fenster. »Irgendein
Besoffener hat mich mit seinem Gebrüll aufgeweckt«, erzählte sie Jack später.
»Petra war schon heimgegangen, und ich hatte noch Lust aufzubleiben. Wenn das
keine Intuition ist, Jackie.«
Als Jack sie erspähte, winkte er. »Els ist Mitte Siebzig«, sagte er
zu Wild Bill, der zu Els in ihrem rot erleuchteten Fenster hinaufstarrte, als
hätte er einen Rachegeist aus der Hölle erblickt, eine Harpyie aus der
Unterwelt, eine infernalische Furie.
» Wie alt ist sie?« fragte Richard.
»Denken Sie an Ihre Großmutter«, sagte Jack zu ihm.
»Jackie!« schrie Els und warf Kußhände. »Mein Kleiner ist wieder da!«
verkündete sie abermals der Sint Jacobsstraat.
Jack warf ihr ebenfalls Kußhände zu. Er winkte und winkte. Und dann
kam es über ihn – als Els zurückwinkte.
Unmöglich, daß Jack sich »erinnerte«, wie seine Mutter ihn an der
Reling hochgehoben hatte, als das Schiff in Rotterdam ablegte, unmöglich, daß
er sich tatsächlich entsann, wie er Els achtundzwanzig Jahre zuvor zugewinkt
oder daß er (als Vierjähriger) gesehen hatte, wie sein Vater zu Boden sank und
sich mit beiden Händen an das gebrochene Herz griff.
»Nicht weinen, Jackie, nicht weinen!« rief ihm Els aus ihrem Fenster
zu, aber Jack war in der Sint Jacobsstraat auf die Knie gesunken. Immer noch
winkte er ihr zum Abschied,
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