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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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gesehen.«
    »Na, wenn das kein schönes Wiedersehen ist«, sagte Sandra.
    Michele hatte ihm mehr über das streßbedingte Ekzem erzählt: Es
trete an ihren Ellbogen und Knien auf. Im Extremfall habe es die gleiche Farbe
und grobe Textur wie der Kehllappen eines Truthahns. Jack starrte unentwegt auf
Micheles Ellbogen und Knie, während sie schlaff in der Wanne lag – er rechnete
halb damit, ganz plötzlich ihr mysteriöses Hautleiden auftreten zu sehen.
    »Was schauen Sie denn so?« fragte ihn Sandra. (Michele war immer
noch weggetreten. Jack hielt sie unter den Achseln fest, damit ihr Kopf nicht
unter Wasser geriet.)
    Er erklärte die Sache mit dem streßbedingten Ekzem, aber Sandra
versicherte ihm, daß es kaum vor seinen Augen zum Ausbruch kommen würde. »So
was spielt sich nicht im Zeitraffertempo ab«, sagte sie. Und mit einem Blick
auf seine Hände: »Hübscher Ring.« (Der Ring von Micheles Mutter steckte noch
immer am kleinen Finger seiner linken Hand.)
    Michele kam langsam zu sich, ohne zu merken, daß Sandra bei ihnen
war. »Ich lasse euch zwei Turteltäubchen jetzt allein. Achten Sie darauf, daß
sie sich nicht im Schlaf übergibt«, sagte Sandra. »Jedenfalls scheinen Sie es
sehr zu genießen, sie anzuschauen.«
    »Haben wir schon miteinander geschlafen?« fragte ihn [955]  Michele. Er
hörte, wie Sandra das Hotelzimmer verließ und hinter ihrem rauhen Lachen die
Tür zufiel.
    »Nein«, sagte Jack, »wir haben noch nicht miteinander geschlafen.«
    »Wann tun wir’s denn dann, Jack? Oder glaubst du, du hast schon
wieder einen Tripper?«
    »Ich hatte damals keinen Tripper. Ich habe bloß geglaubt, ich hätte
vielleicht einen«, erklärte er ihr.
    »Aber du kannst dich ja noch nicht mal erinnern, mit wem du
geschlafen hast«, gab sie zu bedenken. »Dabei trinkst du noch nicht mal oder
so. Du schläfst wohl mit ganz schön vielen Frauen, Jack.«
    »Eigentlich nicht«, sagte er.
    Er empfand für sie nichts als Mitleid und Verachtung, wie man sie
Leuten entgegenbringt, die sich nicht im Griff haben. (Er selbst trank nicht
und hätte unumwunden zugegeben, daß er sich Leuten, die – ganz gleich unter
welchen Umständen – zu viel tranken, überlegen fühlte.) Und das Mitleid, das er
für Michele empfand, hatte mit den Hoffnungen zu tun, die sie gehabt hatte– auf
den gemeinsamen großen Abend, auf die Wohnung ihrer Eltern in New York, um die
sie von der zweiten Frau ihres Vaters gebracht worden war, und sogar auf den
Ring ihrer toten Mutter, der an keinen ihrer Finger paßte. (Jack nahm den Ring
ab und legte ihn in die Seifenschale über dem Badezimmerwaschbecken.)
    Er half Michele beim Abtrocknen; sie war ein bißchen wackelig auf
den Beinen. Sie wollte einen Moment lang im Bad allein sein.
    Das Zimmermädchen hatte bereits die Bettdecke zurückgeschlagen und
die Vorhänge zugezogen, doch Jack zog sie wieder auf, um die Aussicht auf die
Hollywood Hills zu betrachten. Das Zimmer hatte wandhohe Fenster, und die
Aussicht war spektakulär, aber nicht einmal die Hollywood Hills konnten ihn von [956]  Micheles Würgegeräuschen im Bad ablenken. Er stellte sich neben die
Badezimmertür, um sich zu vergewissern, daß sie nicht erstickte. Später, als er
die Toilettenspülung rauschen und Wasser ins Waschbecken laufen hörte, trat er
wieder an die riesigen Fenster.
    Es war das Jahr 2003. Er war seit sechzehn Jahren in Los Angeles. Er
versuchte sich zu erinnern, wie er mit dem Model im Jones geschlafen hatte –
der Frau, die gesagt hatte, er habe einen kleinen Penis –, doch er hatte
keinerlei Erinnerung an sie. Er schloß die Vorhänge mit dem Gedanken, daß er
von den Hollywood Hills genug gesehen hatte.
    Als Michele aus dem Bad kam, trug sie einen der hoteleigenen
Frotteebademäntel; sie wirkte scheu und relativ nüchtern, und sie roch wie eine
ganze Tube Zahnpasta. Es war ihm gar nicht recht, daß sie mit ihm schlafen
wollte – er hatte gehofft, daß das nicht der Fall sein würde. Aber er konnte
sie nicht ein zweites Mal abblitzen lassen, zumal er wußte, daß sie noch immer
an das erste Mal dachte.
    Erst später kam ihm in den Sinn, daß sich Michele wahrscheinlich
ebenso schicksalsergeben darauf eingelassen hatte wie er selbst. Und ihr
Liebesspiel hatte nichts Bemerkenswertes, nichts, was den dauerhafteren
Eindruck aufheben würde, daß sie eigentlich gar nicht miteinander hatten
schlafen wollen. (Sie hatten schlicht damit gerechnet, daß es passieren würde.)
    »Was ist eigentlich so wahnsinnig

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