Bis ich dich finde
Vermögen eingebracht. In und um New York, wo der Film spielt, ist
Jack-als-Harry ein ziemlich berühmter und fotogener Krüppel. Die Arbeit als
Model soll ihm eher das bißchen Würde erhalten, das ihm noch geblieben ist –
sie ist keine finanzielle Notwendigkeit. Er lebt sogar ziemlich gut – in einem
dieser New Yorker Gebäude mit Türsteher. Natürlich ist Harrys Fitness-Studio
rollstuhlgerecht. Er stemmt den halben Tag Gewichte und spielt
Rollstuhl-Basketball, sogar Rollstuhl-Tennis.
[960] Außerdem lernt Jack-als-Harry Liebesgedichte oder Teile von
Liebesgedichten auswendig, die er auch vorträgt. Das stößt nicht immer auf
Gegenliebe, zumal er mit niemandem zusammen ist. Ständig drängt er seine
Freunde – Bekannte aus dem Fitness-Studio, andere männliche Models –, ihre
Freundinnen mit Liebesgedichten zu umwerben. Keiner läßt sich darauf ein. Harry
kennt eine Menge Supermodels – einige der attraktivsten weiblichen Models in
New York. Aber er ist lediglich mit ihnen befreundet – die Liebesgedichte
lassen sie kalt.
Nur einmal in den ersten fünf Viertelstunden des Films hat
Jack-als-Harry Sex, doch das Ganze gerät, kaum verwunderlich, zum Desaster.
Seine Partnerin ist eine junge Frau, die ihn häufig für die Fotoshootings
anzieht, ein ganz und gar reizloses und nervöses, unglamouröses Geschöpf mit
gepiercter Unterlippe. Bei ihr wirken die Liebesgedichte, nicht aber seine
Verkrüppelung. Jack mußte Gillian Scott zubilligen, daß er eine Liebesszene von
geradezu preiswürdiger Unheholfenheit gedreht hatte.
Der von Harry Mocco gesprochene Kommentar aus dem Off besteht nur
aus Liebesgedichten. Alle möglichen Dichter kommen vor, von Thomas Hardy, dem
Düstersten der Düsteren, bis Philip Larkin, von George Wither bis Robert
Graves. (Zuviel Graves, fand Jack.)
Normalerweise kann Harry Mocco nicht mehr als ein Verspaar, selten
einmal eine ganze Strophe vortragen. Niemand, den er kennt, will ein ganzes
Gedicht hören.
»Ich weiß nicht recht, ob diese Rolle für Sie geeignet ist«, hatte
Dr. García ihn vorgewarnt. »Ein verkrüppeltes männliches Model, das noch kein
Publikum gefunden hat. Kommt das Ihrer Wirklichkeit nicht ein bißchen zu nahe?«
Außerdem war ihrer Meinung nach die lange Trennung von ihr nicht ratsam. »So
weit entfernt wie New York mache ich keine Hausbesuche, Jack – obwohl mir ein
bißchen Shopping bestimmt guttäte.«
Warum werden Ihre Kinder, wenn sie das denn sind,
nicht [961] älter?, hätte er sie am liebsten
gefragt. Die Fotos in Dr. Garcías Praxis bildeten eine unersetzliche,
anscheinend dauerhafte Sammlung. Der ältere Ehemann – oder ihr Vater, wenn er
das denn war – war in der Zeit fixiert. Alle schienen sie in der Zeit fixiert,
wie in Bernstein eingeschlossene Insekten. Aber Jack fragte Dr. García nicht
danach.
Er flog einfach nach New York und machte den Film. »Arbeit ist
Arbeit, Dr. García«, hatte er abwehrend gesagt. »Eine Rolle ist einfach nur
eine Rolle. Ich bin nicht Harry Mocco, und ich bin nicht in Gefahr, es zu
werden. Ich bin überhaupt niemand.«
»Das ist unter anderem Ihr Problem, Jack«, hatte sie ihn erinnert.
Der Drehplan für den ganzen Film umfaßte zweiundfünfzig Tage.
Für die Rolle des Harry Mocco, einschließlich der Proben, mußte Jack zwei
Monate in New York sein.
Er hatte sich angewöhnt, zweimal in der Woche zu Dr. García zu gehen
– zwei Monate, in denen er sie nicht sah, würden eine gewisse Anzahl von
Telefonanrufen erforderlich machen. Seine Lebensgeschichte konnte er ihr nicht
per Telefon erzählen. In einem Notfall konnte er zwar mit ihr reden, aber die
Sache mit der chronologischen Reihenfolge würde warten müssen.
In Dr. Garcías Augen war die Fähigkeit, in chronologischer
Reihenfolge zu erzählen, der Maßstab dafür, wie es Jack ging. Es war eine Sache, laut über einen emotional oder psychisch
verstörenden Moment loszuquatschen, aber es war etwas ganz anderes und kostete
viel mehr Aufwand, die Geschichte zu ordnen und sie (genau so, wie sie sich
abgespielt hatte) einem wirklichen Menschen zu erzählen. In dieser Hinsicht
glich das Erzählen in chronologischer Reihenfolge der Schauspielerei: Wenn Jack
die Geschichte nicht geordnet erzählen konnte, dann hieß das für Dr. García,
daß er psychisch und emotional nicht damit umgehen konnte.
[962] Jack Burns legte alles, was er hatte, in Harry Mocco. Er
erinnerte sich, wie Mrs. Malcolm die Klasse tyrannisiert hatte, wie sie frontal
gegen
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