Bis in alle Ewigkeit
Heute denke ich, er ist nur deshalb Freimaurer geworden, weil ihn Tanjas Geringschätzigkeit so verletzte. Vor kurzem habe ich gehört, Fjodor diene in der Tscheka. Das glaube ich nicht.«
Moskau 1917
»Ich habe ihn zu wenig geliebt, zu wenig mit ihm geredet, mich nicht für die Welt interessiert, in der er in letzter Zeit lebte. Vor zwölf Jahren, als ich dich verlor, Lidotschka, dachte ich, nichts könnte schmerzhafter sein. Ohne dich war für mich alles leer und kalt. Es gab Augenblicke, da ich ernsthaft überlegte, welche Medizin mich zuverlässiger von der Trauer um dich befreien würde, Gift oder eine Kugel. Aber ich hielt den neugeborenen Andrej auf dem Arm, die sechsjährige Tanja war bei mir, und Wolodja war gerade elf.
Damals begann die Entfremdung zwischen mir und Wolodja. Tanja war noch klein, für sie existierte der Tod nicht. Sie konnte nicht deshalb nicht an den Sarg treten, weil sie Angst hatte; sie glaubte einfach nicht, dass darin ihre Mama lag. Fürsie lebtest du weiter. Ich habe oft gehört, wie sie mit dir sprach. Mit sieben, acht Jahren lernte sie Gedichte von deinen beiden Lieblingsdichtern Fet und Tjutschew auswendig und flüsterte sie vor sich hin, dabei schaute sie zum Himmel und war sicher, dass du sie hörst. Für dich hat sie musiziert, für dich hat sie gespielt. Tanja ist dem grimmigen Schmerz, dem Begreifen des Todes, entronnen.
Aber Wolodja hat ihn mit voller Wucht gespürt. Er suchte nach Schuldigen und fand drei: Mich, den kleinen Andrej und Gott. Genau in der Reihenfolge.
Von mir wandte er sich ab, wich mir aus. Wenn ich ins Kinderzimmer kam, um ihn zur Nacht zu küssen, zog er sich die Decke über den Kopf. Den kleinen Andrej ignorierte er ein ganzes Jahr lang, ging nie zu ihm, schaute ihn nicht an, berührte ihn nicht, nannte ihn nicht beim Namen.
Bei der Totenmesse ist er aus der Kirche gerannt und hat sie seitdem nie wieder betreten. Aus dem Gymnasium kamen Klagen, dass er die Religionsstunden schwänze, und wenn er sie doch einmal besuche, dann verspotte er den alten Priester und mache ihn vor den anderen Schülern lächerlich.
Ich habe viele Male versucht, mit ihm zu reden, ihn zu überzeugen, habe ihn bestraft. Doch nachdem man in seinen Lungen einen Tuberkuloseherd festgestellt hatte, als er zwölf war, konnte von Bestrafungen keine Rede mehr sein.
Etwas habe ich immerhin doch erreicht. Wolodja wurde gesund und kräftiger. Er flog nicht aus dem Gymnasium, er fing an zu studieren. Ich wusste, dass der Herd noch da war. Seine Lungen waren schwach. Ich bat ihn, sich vorzusehen, aber wer denkt mit dreiundzwanzig Jahren gern daran? Immerhin hatte er genug Verstand, um sich von Kokain und Opium fernzuhalten und nicht blind dem in seinem Kreis populären Selbstmordtrend zu folgen, aber die schlaflosen Nächte, die eiskaltenesoterischen Leidenschaften, seine ganze Lebensweise und dieser Umgang taten das Ihre.
Von unseren drei Kindern war Wolodja das schwierigste. Ich habe ihn zu wenig geliebt. Ich habe ihn nicht behütet. Verzeih mir.«
Sweschnikow glaubte, das alles laut auszusprechen, er hörte sogar seine eigene Stimme, wie aus der Ferne.
»Papa, bitte schweige nicht, sag etwas«, bat Tanja.
»Ja«, antwortete er und sank wieder in seine dunkle innere Stille, in der niemand außer seiner verstorbenen Frau Lidotschka ihn hören und verstehen konnte.
Wolodja wurde auf dem Friedhof Wagankowo begraben, neben seiner Mutter.
Tanja hatte auf einer Totenmesse bestanden. Nur wenige Menschen waren in der Friedhofskapelle versammelt. Sweschnikow stand dicht neben dem Sarg und konnte die trockenen entzündeten Augen nicht vom Gesicht seines Sohnes wenden. Andrej wurde beinahe ohnmächtig. Tanja konnte ihn gerade noch auffangen und an die Luft bringen.
Schnee fiel in stechenden, kleinen Flocken. An der Kirchentreppe sah Tanja eine kleine Gruppe Menschen stehen. Sie waren gekommen, um Abschied von Wolodja zu nehmen, gingen aber nicht in die Kirche, sondern warteten draußen. Tanja hatte in diesen Tagen so viel geweint, dass ihr die Augen wehtaten. Sie konnte nicht erkennen, wer die Leute waren. Erst später, am Grab, sah sie Renata und Georgi Chudolej eine Handvoll Erde auf Wolodjas Sarg werfen. Sie traten weder zu ihr noch zu Sweschnikow und entfernten sich rasch. Tanja schaute ihnen nach. Auf der Allee kam ihnen ein kleiner älterer Herr in einem teuren Pelzmantel und mit einer Mütze entgegen.
Die Allee war schmal und auf beiden Seiten von Schneewehen gesäumt. Renata und
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