Bis in alle Ewigkeit
geht zu Ende.«
»Ich habe verstanden.« Der Meister nickte.
»Er braucht Morphium. Er hat starke Schmerzen.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Überlegen Sie selbst, Disciple.«
»Sie haben Angst, er könnte abhängig werden? Sein Gehirn könnte Schaden erleiden? Aber ganz geringe Dosen würden genügen, wenigstens für die ersten Tage, wenigstens für die Nacht, damit er schlafen kann. Bei solchen Verwundungen bekommen alle Morphium, das kann man nicht aushalten.«
»Der Professor hat einen starken Willen. Er wird es aushalten.«
Würden Sie es denn aushalten?, hätte Agapkin beinahe gefragt, sagte aber stattdessen: »Im Haus ist es kalt, es gibt keinen Strom, das Telefon ist abgeschaltet.«
»Bis morgen ist alles in Ordnung.«
Der Meister hatte sich nicht hingesetzt, auch Agapkin war aufgestanden. Kaffee wurde doch nicht gebracht. Die Nachricht von dem toten halbnackten Kurier an den Patriarchenteichen schien Belkin zu überhören.
Äußerlich war der Meister vollkommen ruhig und freundlich, wie immer. Aber Agapkin kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen: Er war äußerst nervös, hielt sich aber tapfer. Er wollte nichts erklären. Oder konnte er es einfach nicht? Verstand er es selbst nicht?
Irgendwas ist schiefgelaufen, dachte Agapkin, nebenan, im Esszimmer, halten sie eine Sitzung ab, von dort kommen Stimmen und Zigarrenrauch. Haben sie die Kontrolle über die revolutionären Massen verloren? Oder haben sie nicht mit solcher Gegenwehr gerechnet? In Petrograd ist alles fast ruhig über die Bühne gegangen. Moskau leistet Widerstand. Fahnenjunker, junge Männer und Frauen. Die Moskauer Kinder sind die letzte Stütze des alten Lebens. Ich habe nicht das Recht, Erklärungen zu verlangen. So weit reicht mein Seil vorerst noch nicht. Haben sie etwa dieses ganze Grauen angezettelt? Nein, natürlich nicht. Sie sagen immer wieder, sie hätten keine politischen Ziele. Die Loge beschäftige sich ausschließlich mit wissenschaftlichen, geistigen und ethischen Fragen. Aber der Februar, das war ihr Werk. Doch den Oktober haben sie nicht geplant, nicht erwartet, nicht gewollt. Jetzt sind sie in Panik und suchen nach Wegen, sich mit der unbegreiflichen neuen Macht zu arrangieren.
Der junge Mann in der Soldatenbluse kam aus dem Wohnzimmer. Der Meister flüsterte ihm rasch etwas ins Ohr und sah zu Agapkin.
Der Junge führte ihn durch die Küche hinaus. Auf dem Hof, vor dem Dienstboteneingang, stand ein Automobil, zerschrammt und schmutzig. Innen aber war es mit teurem Leder ausgeschlagen. Auf dem Rücksitz standen zwei große Tüten und ein Korb voll Obst. Ein Chauffeur mit einer nagelneuen Ledermütze setzte sich ans Steuer und fuhr los.
»Warten Sie!«, rief Agapkin erschrocken.
»Was ist?«, fragte der Chauffeur, ohne sich umzudrehen.
»Ich muss doch erklären, woher das alles kommt und von wem.«
»Im Korb liegt ein Zettel, ›von dankbaren Patienten‹. Die Einzelheiten denken Sie sich selber aus.«
Hamburg 2006
Im Hotelrestaurant spielte ein junger Pianist einen Blues. Sein langes rotes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, der beim Spielen heftig wippte. Am Nebentisch saß ein altes englisches Ehepaar um die achtzig. Sofja hätte das alte Paar ewig anschauen können. Sie waren ein organisches Ganzes. Sie lebten bestimmt schon seit mindestens fünfzig Jahren zusammen. Sie knurrten sich gegenseitig an und verspotteten einander, dabei strahlten sie vor Liebe wie Jungverheiratete.
Meine Eltern werden nie so zusammensitzen. Und ich bestimmt auch nie mit jemandem, dachte Sofja.
Die beiden Alten bemerkten ihren Blick und lächelten sie an.
»Was für ein wundervolles Pärchen«, sagte sie zu Subow.
»Ganz normale alte Engländer.« Er lachte spöttisch, zuckte die Achseln und wandte sich an den Kellner: »Bitte zweimal Spargel mit Wachteleiern und zwei Kamillentee mit Zitrone und Honig.«
»Das ist alles?«, fragte Sofja erstaunt.
»Natürlich. Sie sind ja, wie es aussieht, sowieso nicht zum Essen heruntergekommen, sondern um anderen Leuten dabei zuzusehen. Als wären Sie im Theater. Was haben Sie gegen die Bestellung? Mögen Sie keinen Spargel? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Einen Moment, ich rufe den Kellner zurück, und Sie suchen sich etwas anderes aus.«
»Nein. Nicht nötig. Woher soll ich wissen, ob ich Spargel mag oder nicht, wenn ich noch nie welchen gegessen habe?«
»Nein?« Er hob langsam die Brauen. »Sie waren noch nie im Ausland, Sie haben noch nie Spargel gegessen. Was
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