Bis in alle Ewigkeit
Nolik schnarchte.
Draußen vorm Fenster schwankte eine Straßenlaterne im Wind, die Schatten an der Decke und an den Wänden bewegten sich. Sofja hatte plötzlich das Gefühl, als hätte das Zimmer ein eigenes geheimes nächtliches Leben und als wäre sie, Sofja, hier überflüssig. Als dürfte niemand sehen, wie tragisch sich die Schreibtischlampe neigte, wie die Vorhänge zitterten, wie dasriesige rechteckige Auge, der Spiegel des Kleiderschranks, von Tränenfeuchte beschlagen, glänzte. Sobald sie sich bewegte, quietschte die Liege.
»Du liegst hier rum?«, hörte Sofja. »Meinst du nicht, dein geliebter Papa könnte ermordet worden sein?«
»Von wem? Warum?«, rief Sofja erschrocken, erwachte vom Klang ihrer eigenen Stimme endgültig und schaltete das Licht ein.
Die Diagnose des Notarztes hatte bei niemandem Zweifel geweckt: Akutes Herzversagen. Sofja war an diesem Tag wie benommen gewesen, hatte mechanisch alle Fragen beantwortet und in ein liniertes Formular geschrieben, was der Arzt und ein Milizionär ihr diktierten:
»Ich, Sofja Dmitrijewna Lukjanowa, geboren 1976, wohnhaft da und da, kam am soundsovielten um soundsoviel Uhr in das Zimmer meines Vaters. Er lag im Bett, auf dem Rücken, unter einer Decke. Atmung und Puls waren nicht zu spüren, seine Haut fühlte sich kalt an …«
Sie hatte immer wieder gesagt, ihr Vater sei gesund gewesen und habe nie über Herzprobleme geklagt, als wollte sie sich selbst beweisen, dass sein Tod ein Missverständnis sei, dass er gleich die Augen öffnen und aufstehen würde.
»Siebenundsechzig, und das in Moskau. Extreme Umweltbelastungen, ständiger Stress«, erklärte der Arzt.
Er war ein älterer, höflicher Mann. Er sagte, einen solchen Tod könne man sich nur wünschen. Ohne Qualen, im Schlaf, im eigenen Bett. Ja, vermutlich hätte er noch zehn, fünfzehn Jahre leben können, aber heutzutage stürben selbst junge Leute wie die Fliegen, und er sei ein alter Mann gewesen.
Die Organisation und die Kosten der Beerdigung und der Totenfeier übernahm das Institut. Bims Frau Kira wich nicht von Sofjas Seite und versorgte sie mit Beruhigungstabletten,doch Sofja hatte heftige Krämpfe in der Kehle, sie schluckte mit Mühe gerade mal eine Kapsel hinunter und musste sich anschließend unentwegt übergeben. Während alle beim Totenschmaus saßen, würgte Sofja im Bad ihr Innerstes nach außen.
Am Tag nach der Beerdigung hatte Sofja Fieber bekommen. Sie ging nicht ans Festnetztelefon. Ihr Mobiltelefon war abgeschaltet, weil das Guthaben aufgebraucht war. Gestern hatte jemand das Konto aufgeladen, und sie war wieder erreichbar.
»Wenn ich ständig darüber nachdenke, werde ich noch verrückt«, sagte sich Sofja, »schließlich ist niemand sonst auf diese Idee gekommen, kein Mensch.«
Sofja presste die Hände gegen die Schläfen und fing an zu weinen.
Inzwischen hatte das Schnarchen aufgehört. Hinter der Wand waren Bewegung, Quietschen, Husten und Schlurfen zu vernehmen. Nolik erschien in der Tür, in eine Decke gehüllt wie in eine römische Toga.
»Was hast du?«, fragte er gähnend.
Sofja weinte weiter und brachte kein Wort heraus. Nolik holte ihr eine Tasse kalten Tee aus der Küche. Sie trank, und ihre Zähne schlugen gegen den Tassenrand.
»Das Fieber ist gesunken«, sagte Nolik, nachdem er ihre Stirn befühlt hatte, »aber wenn du weiter so heulst, steigt es wieder.«
»Geh schlafen«, sagte Sofja.
»Du bist gut!«, empörte sich Nolik. »Würdest du an meiner Stelle etwa gehen? Und einschlafen? Hör mal, du hast mir noch immer nicht erzählt, worüber du gestern mit diesem Kulik geredet hast. Was hat er dir eigentlich angeboten?«
Sofja schluchzte. »Er will sich morgen mit mir treffen. Es geht um irgendein großartiges internationales Projekt, die Schaffung eines bioelektronischen Hybrids. Computergesteuerte Morphogenese in vitro .«
»Ich verstehe kein Wort.« Nolik runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Sie wollen nicht einfach nur Gewebe in Reagenzgläsern züchten, sondern diesen Prozess lenken, die Zelle steuern«, erklärte Sofja und wischte sich die Tränen ab. »Theoretisch hat das natürlich mit meinem Thema zu tun, aber es ist trotzdem komisch, dass sie plötzlich so aktiv werden. Kulik hat nicht einmal abgewartet, bis ich mich bei ihm melde, sondern selbst angerufen. Das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich.«
»Du hast ein zu geringes Selbstwertgefühl, Sofie. Gib dir einen Ruck, komm zu dir. Das ist doch alles sehr schön für dich.
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