Bis in alle Ewigkeit
Jetzt muss nur noch dein Ohr wieder gesund werden.«
»Und Papa wieder lebendig«, murmelte Sofja.
»Schluss jetzt, genug!« Nolik hob die Stimme, stand auf und lief durchs Zimmer. »Wenn die Eltern sterben, das ist schlimm, das tut weh. Aber es ist normal, Sofie. Die Kinder dürfen deshalb nicht plötzlich ihr Leben anhalten, verstehst du? Sollte ich nicht endgültig dem Suff verfallen und doch noch eine Frau finden, die bereit ist, ein Kind von mir zu kriegen, werde ich es rechtzeitig darauf vorbereiten, es an den simplen Gedanken gewöhnen, dass die Eltern vor ihm sterben werden. Ja, Dmitri Nikolajewitsch ist tot, das ist ein großer Kummer, aber dein Leben geht weiter.«
»Und wenn er nun ermordet wurde?«, fragte Sofja plötzlich.
Nolik erstarrte mit offenem Mund, musste husten, griff nach einem Papiertaschentuch, schüttelte mit zitternden Händen die ganze Packung aus und wischte sich die nasse Stirn ab.
»Es gibt Gifte, die im Körper keinerlei Spuren hinterlassen und deren Wirkung einen natürlichen Tod vortäuschen kann, zum Beispiel durch akutes Herzversagen«, fuhr Sofja mit fremder, mechanischer Stimme fort. »Irgendetwas ging die letzten zwei Monate in Papas Leben vor. Er hat sich sehr verändert.Jemand hat ihn unter Druck gesetzt, irgendwer wollte etwas von ihm. An seinem letzten Abend hatte er in diesem Restaurant mit irgendjemandem eine schwierige Unterredung. Ich habe ihn noch nie in einem solchen Zustand gesehen, höchstens damals, als Mama wegging, aber selbst da hatte er sich besser in der Gewalt.«
»Vielleicht hatte er ja einfach Herzbeschwerden und hat dir nichts davon gesagt?«, fragte Nolik, der sich ein wenig beruhigt hatte. »Dein Vater war immer gesund, er kannte es nicht anders. Und auf einmal – wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Das Herz tut weh, er fühlt sich elend. Womöglich hat er sich ja untersuchen lassen, wollte dich aber nicht damit belasten. Vielleicht ist er nach Deutschland geflogen, um Ärzte zu konsultieren oder sich behandeln zu lassen. Womöglich war es eine Krankheit, die ihn bedrückt hat, irgendeine schwere, komplizierte Herzkrankheit, an der er am Ende gestorben ist. Mach dich nicht verrückt, erfinde nicht irgendwelche Schurken mit Gift im Restaurant.«
»Klingt logisch.« Sofja seufzte. »Ja, bestimmt hast du recht. Aber – die Aktentasche? Die Fotos?«
»Richtig! Die Fotos!«, rief Nolik und schlug sich mit seiner üblichen Theatralik an die Stirn. Manchmal schätzte er seine Kraft dabei falsch ein, und auf seiner Stirn entstanden rote Streifen. »Ich weiß jetzt, an wen mich das Mädchen mit dem Zopf erinnert! Komisch, dass du sie nicht erkannt hast!«
Nolik sah sich im Zimmer um und ging zu den Bücherregalen. Dort standen mehrere Fotos hinter Glas. Eine gerahmte große alte Fotografie zeigte ein strenges, sehr schönes Mädchen. Ihr Haar wirkte dunkler als auf den Fotos aus der Aktentasche. Der Zopf war nicht zu sehen, das Haar war zu einem Knoten gebunden. Sofjas Großmutter, die Mutter ihres Vaters, Vera Jewgenjewna Lukjanowa, noch ganz jung.
Moskau 1916
Der Infanterieunteroffizier Samochin klagte, seine rechte Hand sei taub, die Finger würden anschwellen und jucken. Der Nagel des Zeigefingers sei eingewachsen und müsse entfernt werden.
»Ich spiele Gitarre, Fräulein, ich brauche meine Finger.«
Tanja schlug die Decke zurück und erblickte einen verbundenen Stumpf. Der rechte Arm des Mannes war bis zum Ellbogen amputiert. Tanja schüttelte sein Kissen auf, strich ihm über den kahlgeschorenen Kopf und sagte, wie sie es von den alten Ordensschwestern hier in der postoperativen Abteilung gehört hatte: »Mein Lieber, mein Guter, hab Geduld.«
Am anderen Ende des Krankensaals quietschte ein Bett, und eine heisere Stimme sang leise: »Ruhm dem Kaiser, wir liegen im Dreck und haun dem Deutschen die Birne weg.«
Auf dem Kissen ruhte ein großer rosiger Kopf, kahlgeschoren wie bei allen Verwundeten. Die langen Arme waren in die Höhe gereckt, die Finger ballten immer wieder eine Faust und beschrieben sonderbare Kreisbewegungen. Unter der Decke zeichnete sich ein kurzer Körper ab. Ein flacher Hügel von der Größe eines Rumpfes, sonst nichts.
»Ich trainiere die Arme«, erklärte der Soldat, »sie müssen mir jetzt die Beine ersetzen. Meine Beine hab ich, wie du siehst, für alle Zeit dem Franzosen überlassen, als ich ihr Verdun gegen die Deutschen verteidigt hab. Was, zum Teufel, frage ich dich, schert mich ihr französisches Verdun? Was
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