Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis in alle Ewigkeit

Bis in alle Ewigkeit

Titel: Bis in alle Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Daschkowa
Vom Netzwerk:
überlebte. Unteroffizier Samochin aber, dem man den rechten Arm amputiert hatte, starb, obwohl die Wunde gut verheilte.
    »An Trauer«, erklärte sein Bettnachbar Tanja.
    »Er litt an Angina pectoris«, sagte ihr Vater, »das habe ich alter Esel übersehen.«
    Karas wurde in einen anderen Saal verlegt. In der Lazarettwerkstatt wurde für ihn ein primitiver Rollwagen gebaut. Tagelang fuhr er in Begleitung seiner Mutter durch die Flure, festgebunden auf einem Brett mit Rädern, und lernte, sich mit kurzen Krücken vom Boden abzustoßen.
    Der Unteroffizier wurde auf den Friedhof gebracht. Die beiden frei gewordenen Betten belegten neue Verwundete.
    Vater und Tochter gingen vom Lazarett zu Fuß nach Hause. Es war der erste richtige Frühlingsmorgen. Der Himmel war aufgeklart, die Sonne spiegelte sich in Pfützen und Fensterscheiben. Tanja mied die Pfützen geschickt, trotzdem waren ihre hochhackigen cremefarbenen Wildlederschuhe am Ende über und über mit Schlamm bespritzt und durchnässt.
    »Awdotja hat doch gesagt, du sollst die Halbschuhe anziehen!«, knurrte der Professor. »Nie hörst du auf jemanden, allesmachst du nach deinem eigenen Kopf, selbst wenn es um Kleinigkeiten geht.«
    Vor der Großen-Himmelfahrts-Kirche drängten sich die Bettler. Es war gerade Gottesdienst.
    »Gehen wir rein?«, fragte Tanja.
    »Na, wenn du unbedingt willst.« Der Professor gähnte. »Ehrlich gesagt möchte ich nur so schnell wie möglich ein Bad nehmen und mich ausschlafen.«
    »Keine Angst, nur kurz.«
    Tanja wollte Kerzen aufstellen und Fürbittbriefe für die Gesundheit von Oberst Danilow und für den Seelenfrieden von Unteroffizier Samochin abgeben. Ihr Glaube an Gott war noch immer aufrichtig und schlicht, wie in ihrer frühen Kindheit, als die Kinderfrau Awdotja mit ihr in die Kirche gegangen war. Im Gymnasium wurde sie von vielen fortschrittlichen jungen Mädchen deswegen ausgelacht. Junge Damen in ihrem Alter und älter schwärmten für den Spiritismus, lasen den »Theosophischen Boten«, besuchten Medien und Wahrsagerinnen. Orthodox zu sein galt in kultivierten Kreisen nicht nur als altmodisch, sondern fast als unanständig. Tanjas Bruder Wolodja spottete in ihrer Gegenwart absichtlich über die Kirche, nannte die Priester »Popiks« und las ihr den Boulevardzeitungsklatsch über die Lasterhaftigkeit und Völlerei der Mönche und über die Homosexualität hoher Kleriker vor. Sie stritt nie mit ihm, wich aus und betete dann inbrünstig für ihren Bruder. Sie wusste, was für Abscheulichkeiten Wolodja in seinem fröhlichen okkulten Zirkel trieb.
    Professor Sweschnikow war kein Atheist, betrachtete aber die Kirche lediglich als eine von vielen staatlichen Einrichtungen. Aus Rücksicht auf Tanjas Gefühle bekreuzigte er sich in der Kirche akkurat und hielt die Große Fastenzeit ein.
    Als sie die Kirchentreppe hinaufgingen und den BettlernKleingeld gaben, griff eine winzige Hand, die aussah wie eine Vogelkralle, nach dem Saum von Tanjas weißem Pelzmantel.
    »Hilf mir, hilf mir …«
    Die hohe Stimme war ganz leise, übertönte jedoch alle anderen. Ein Geschöpf in ausgeblichener Gymnasiastenjacke, langen Unterhosen und riesigen Kunstlederstiefeln schaute Tanja aus hervorquellenden, wimpernlosen braunen Augen an. Sein Kopf war mit einem löchrigen Strickschal umwickelt. Das faltige kleine Gesicht wirkte wie eine bösartige Karikatur eines Kindes und zugleich eines Greises, ja überhaupt wie die Karikatur eines Menschen. Eine kräftige Frau in Lumpen packte den Kind-Greis am Jackenkragen und zischte:
    »Ossja, du Teufel, rühr das edle Fräulein nicht an, lass los, du machst den teuren Pelz noch schmutzig! Scher dich zu deiner Synagoge und bettle da, nicht hier! Schönes Fräulein, gib einer armen Soldatenwitwe etwas Kleingeld für ein Stück Brot, hab Mitleid mit meinen Waisenkindern!«
    Ob nun die Frau Ossja zu heftig geschüttelt hatte oder er sich ohnehin kaum auf den Beinen halten konnte, jedenfalls sank er langsam in sich zusammen und fiel direkt in Tanjas Arme. Der Professor hob ein Augenlid des Kind-Greises an und fühlte seinen Puls.
    »Ohnmächtig«, sagte er leise zu Tanja.
    Sie hielt den Jungen in den Armen, er war merkwürdig leicht, fast körperlos. Der Professor lief nach einer Droschke. Zwanzig Minuten später kehrten sie mit dem Kind-Greis zurück ins Lazarett. Unterwegs kam er zu sich. Er sagte, es gehe ihm gut, er heiße Iossif Katz und werde in einem Monat elf Jahre. Seine Eltern würden ihn nur Ossja

Weitere Kostenlose Bücher